Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

Bild:
<< vorherige Seite

durch ihre friedfertige und alles Eigennutzes entkleidete Stellung in Konstantinopel die den Sultan umspiegelnden Jntriguen paralisirt hat, so muß man gestehen, daß Rußland in der Türkei seither ein so großes Stück Terrain verloren hat, als man nach dem Vertrage von Unkiar Jskelessi nicht hätte glauben sollen. Jnzwischen lauten die Berichte aus dem Orient dahin, daß Rußland, unbekümmert um die diplomatische Polemik von Konstantinopel, sich bereits faktisch im türkischen Reiche zu arrondiren anfängt. Was es ohne Lärmen und Schwertstreich nehmen kann, nimmt es; die Ohnmacht des türkischen Reiches und das Vertrauen in die russische Bundesgenossenschaft hat die Grenzen der türkischen Besitzungen von aller Gegenwehr entblöst, und es möglich gemacht, daß nicht unglaubwürdige Berichte aus dem Orient behaupten konnten, Rußland hätte seit dem Jahre 1814 theils im Krieg, theils im Frieden, sich um 300 deutsche Meilen, bis in das Jnnere der europäischen Türkei hinein, bereits zu vergrößern gewußt. Wie soll England diese stillschweigende Verrückung der Geographie hintertreiben? Sie geschieht ohne alle Controlle, ohne alle pomphafte Besitzergreifung. England weiß, was vorgeht, und wird sich entschließen müssen, den Sitz seiner orientalischen Diplomatie von Konstantinopel nach Teheran zu verlegen. Nur durch eine, mit allen Mitteln der Civilisation und des Geldes herbeigeführte Erstarkung des

durch ihre friedfertige und alles Eigennutzes entkleidete Stellung in Konstantinopel die den Sultan umspiegelnden Jntriguen paralisirt hat, so muß man gestehen, daß Rußland in der Türkei seither ein so großes Stück Terrain verloren hat, als man nach dem Vertrage von Unkiar Jskelessi nicht hätte glauben sollen. Jnzwischen lauten die Berichte aus dem Orient dahin, daß Rußland, unbekümmert um die diplomatische Polemik von Konstantinopel, sich bereits faktisch im türkischen Reiche zu arrondiren anfängt. Was es ohne Lärmen und Schwertstreich nehmen kann, nimmt es; die Ohnmacht des türkischen Reiches und das Vertrauen in die russische Bundesgenossenschaft hat die Grenzen der türkischen Besitzungen von aller Gegenwehr entblöst, und es möglich gemacht, daß nicht unglaubwürdige Berichte aus dem Orient behaupten konnten, Rußland hätte seit dem Jahre 1814 theils im Krieg, theils im Frieden, sich um 300 deutsche Meilen, bis in das Jnnere der europäischen Türkei hinein, bereits zu vergrößern gewußt. Wie soll England diese stillschweigende Verrückung der Geographie hintertreiben? Sie geschieht ohne alle Controlle, ohne alle pomphafte Besitzergreifung. England weiß, was vorgeht, und wird sich entschließen müssen, den Sitz seiner orientalischen Diplomatie von Konstantinopel nach Teheran zu verlegen. Nur durch eine, mit allen Mitteln der Civilisation und des Geldes herbeigeführte Erstarkung des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0428" n="426"/>
durch ihre friedfertige und alles Eigennutzes entkleidete Stellung in Konstantinopel die den Sultan umspiegelnden Jntriguen paralisirt hat, so muß man gestehen, daß Rußland in der Türkei seither ein so großes Stück Terrain verloren hat, als man nach dem Vertrage von <hi rendition="#g">Unkiar Jskelessi</hi> nicht hätte glauben sollen. Jnzwischen lauten die Berichte aus dem Orient dahin, daß Rußland, unbekümmert um die diplomatische Polemik von Konstantinopel, sich bereits faktisch im türkischen Reiche zu arrondiren anfängt. Was es ohne Lärmen und Schwertstreich nehmen kann, nimmt es; die Ohnmacht des türkischen Reiches und das Vertrauen in die russische Bundesgenossenschaft hat die Grenzen der türkischen Besitzungen von aller Gegenwehr entblöst, und es möglich gemacht, daß nicht unglaubwürdige Berichte aus dem Orient behaupten konnten, Rußland hätte seit dem Jahre 1814 theils im Krieg, theils im Frieden, sich um 300 deutsche Meilen, bis in das Jnnere der europäischen Türkei hinein, bereits zu vergrößern gewußt. Wie soll England diese stillschweigende Verrückung der Geographie hintertreiben? Sie geschieht ohne alle Controlle, ohne alle pomphafte Besitzergreifung. England weiß, was vorgeht, und wird sich entschließen müssen, den Sitz seiner orientalischen Diplomatie von Konstantinopel nach Teheran zu verlegen. Nur durch eine, mit allen Mitteln der Civilisation und des Geldes herbeigeführte Erstarkung des
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[426/0428] durch ihre friedfertige und alles Eigennutzes entkleidete Stellung in Konstantinopel die den Sultan umspiegelnden Jntriguen paralisirt hat, so muß man gestehen, daß Rußland in der Türkei seither ein so großes Stück Terrain verloren hat, als man nach dem Vertrage von Unkiar Jskelessi nicht hätte glauben sollen. Jnzwischen lauten die Berichte aus dem Orient dahin, daß Rußland, unbekümmert um die diplomatische Polemik von Konstantinopel, sich bereits faktisch im türkischen Reiche zu arrondiren anfängt. Was es ohne Lärmen und Schwertstreich nehmen kann, nimmt es; die Ohnmacht des türkischen Reiches und das Vertrauen in die russische Bundesgenossenschaft hat die Grenzen der türkischen Besitzungen von aller Gegenwehr entblöst, und es möglich gemacht, daß nicht unglaubwürdige Berichte aus dem Orient behaupten konnten, Rußland hätte seit dem Jahre 1814 theils im Krieg, theils im Frieden, sich um 300 deutsche Meilen, bis in das Jnnere der europäischen Türkei hinein, bereits zu vergrößern gewußt. Wie soll England diese stillschweigende Verrückung der Geographie hintertreiben? Sie geschieht ohne alle Controlle, ohne alle pomphafte Besitzergreifung. England weiß, was vorgeht, und wird sich entschließen müssen, den Sitz seiner orientalischen Diplomatie von Konstantinopel nach Teheran zu verlegen. Nur durch eine, mit allen Mitteln der Civilisation und des Geldes herbeigeführte Erstarkung des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-09-13T12:39:16Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/428
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/428>, abgerufen am 14.05.2024.