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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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unsägliche Fülle von Elend und Verzweiflung birgt. Es gibt für den Schriftsteller Aufgaben, denen er nur mit Widerwillen gehorcht. Alexander mußte die Pythia mit Gewalt ergreifen und sie auf den Dreifuß setzen, um sich die Herrschaft der Welt und einen frühen Tod prophezeihen zu lassen. So kann ich das unbehagliche Gefühl jener Aerzte verstehen, welche sich mit ihrem keuschen und reinen Bewußtseyn entschließen müssen, in dem Pfuhl, welchen die menschliche Sinnlichkeit zurückläßt, entweder eigenhändig aufzuräumen oder sogar die Feder zu ergreifen, um darüber zu schreiben.

Was verbirgt sich nicht alles hinter unsern Wänden? Was geht in den Häusern vor, an welchen wir vorübergehen und wo die Thüren und Fenster uns so leer und gleichgültig anstarren? Wie wir uns grüßen und begegnen, wie wir Feinde sind auf offener Arena, oder Freunde in stiller Einsamkeit; wie wir draußen auf der Rednerbühne sprechen, oder daheim im traulichen Umgange - wir haben alle ein Geheimniß, wir haben noch immer Etwas, das wir Niemanden sagen, immer Etwas, worüber wir uns nur selbst Rechenschaft geben. Wie es im Geistigen ist, so ist es auch in der Sitte. Es werden an dem Gemälde unsrer Zeit immer noch Pinselstriche fehlen; wer kann sich in alle Nebengassen und versteckten Winkel unsres gesellschaftlichen Daseyns verlieren? Aber es ist gut, daß jeder aus sich selbst im Stande ist, das Gemälde zu

unsägliche Fülle von Elend und Verzweiflung birgt. Es gibt für den Schriftsteller Aufgaben, denen er nur mit Widerwillen gehorcht. Alexander mußte die Pythia mit Gewalt ergreifen und sie auf den Dreifuß setzen, um sich die Herrschaft der Welt und einen frühen Tod prophezeihen zu lassen. So kann ich das unbehagliche Gefühl jener Aerzte verstehen, welche sich mit ihrem keuschen und reinen Bewußtseyn entschließen müssen, in dem Pfuhl, welchen die menschliche Sinnlichkeit zurückläßt, entweder eigenhändig aufzuräumen oder sogar die Feder zu ergreifen, um darüber zu schreiben.

Was verbirgt sich nicht alles hinter unsern Wänden? Was geht in den Häusern vor, an welchen wir vorübergehen und wo die Thüren und Fenster uns so leer und gleichgültig anstarren? Wie wir uns grüßen und begegnen, wie wir Feinde sind auf offener Arena, oder Freunde in stiller Einsamkeit; wie wir draußen auf der Rednerbühne sprechen, oder daheim im traulichen Umgange – wir haben alle ein Geheimniß, wir haben noch immer Etwas, das wir Niemanden sagen, immer Etwas, worüber wir uns nur selbst Rechenschaft geben. Wie es im Geistigen ist, so ist es auch in der Sitte. Es werden an dem Gemälde unsrer Zeit immer noch Pinselstriche fehlen; wer kann sich in alle Nebengassen und versteckten Winkel unsres gesellschaftlichen Daseyns verlieren? Aber es ist gut, daß jeder aus sich selbst im Stande ist, das Gemälde zu

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[48/0050] unsägliche Fülle von Elend und Verzweiflung birgt. Es gibt für den Schriftsteller Aufgaben, denen er nur mit Widerwillen gehorcht. Alexander mußte die Pythia mit Gewalt ergreifen und sie auf den Dreifuß setzen, um sich die Herrschaft der Welt und einen frühen Tod prophezeihen zu lassen. So kann ich das unbehagliche Gefühl jener Aerzte verstehen, welche sich mit ihrem keuschen und reinen Bewußtseyn entschließen müssen, in dem Pfuhl, welchen die menschliche Sinnlichkeit zurückläßt, entweder eigenhändig aufzuräumen oder sogar die Feder zu ergreifen, um darüber zu schreiben. Was verbirgt sich nicht alles hinter unsern Wänden? Was geht in den Häusern vor, an welchen wir vorübergehen und wo die Thüren und Fenster uns so leer und gleichgültig anstarren? Wie wir uns grüßen und begegnen, wie wir Feinde sind auf offener Arena, oder Freunde in stiller Einsamkeit; wie wir draußen auf der Rednerbühne sprechen, oder daheim im traulichen Umgange – wir haben alle ein Geheimniß, wir haben noch immer Etwas, das wir Niemanden sagen, immer Etwas, worüber wir uns nur selbst Rechenschaft geben. Wie es im Geistigen ist, so ist es auch in der Sitte. Es werden an dem Gemälde unsrer Zeit immer noch Pinselstriche fehlen; wer kann sich in alle Nebengassen und versteckten Winkel unsres gesellschaftlichen Daseyns verlieren? Aber es ist gut, daß jeder aus sich selbst im Stande ist, das Gemälde zu

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/50>, abgerufen am 28.04.2024.