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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VIII. Einschachtelung der Seele.
gebildet oder präformirt sei; die "Entwickelung" des Keimes
bestehe eigentlich nur in einer "Auswickelung" (Evolutio) der
eingewickelten Theile. Als nothwendiger Folgeschluß dieses Irr-
thums ergab sich daraus weiterhin die oben erwähnte Einschach-
telungs-Theorie (S. 65); da im weiblichen Embryo bereits der
Eierstock vorhanden wäre, mußte man annehmen, daß in dessen
Eiern wieder schon die Keime der nächsten Generation ein-
geschachtelt vorhanden seien, und so weiter, in infinitum! Diesem
Dogma der "Ovulisten"-Schule stand gegenüber eine andere,
ebenso irrthümliche Ansicht, die der "Animalkulisten"; diese
glaubten, daß der eigentliche Keim nicht in der weiblichen Eizelle
der Mutter, sondern in der männlichen Spermazelle des Vaters liege,
und daß in diesem "Samenthierchen" (Spermatozoon) die Ein-
schachtelung der Generations-Reihen zu suchen sei.

Leibniz übertrug diese Einschachtelungs-Lehre ganz folge-
richtig auch auf die menschliche Seele; er leugnete für sie eine
wahre Entwickelung (Epigenesis) ebenso wie für den Körper
und sagte in seinen Theodicee: "So sollte ich meinen, daß die
Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im
Samen, wie jene von anderen Species, dagewesen sind; daß sie
in den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der
Dinge, immer in der Form organisirter Körper existirt haben."
Aehnliche Vorstellungen erhielten sich sowohl in der Biologie wie
in der Philosophie noch bis in das dritte Decennium unseres
Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der Keimesgeschichte durch
Baer den Todesstoß versetzte. Im Gebiete der Psychologie
haben sie aber selbst bis auf den heutigen Tag noch vielfach
Geltung; sie stellen nur eine Gruppe unter den vielen seltsamen,
mystischen Vorstellungen dar, welche die Ontogenie der Psyche
auch heute noch aufweist.

Mythologie des Seelen-Ursprungs. Die näheren Auf-
schlüsse, welche wir durch die vergleichende Ethnologie neuerdings

VIII. Einſchachtelung der Seele.
gebildet oder präformirt ſei; die „Entwickelung“ des Keimes
beſtehe eigentlich nur in einer „Auswickelung“ (Evolutio) der
eingewickelten Theile. Als nothwendiger Folgeſchluß dieſes Irr-
thums ergab ſich daraus weiterhin die oben erwähnte Einſchach-
telungs-Theorie (S. 65); da im weiblichen Embryo bereits der
Eierſtock vorhanden wäre, mußte man annehmen, daß in deſſen
Eiern wieder ſchon die Keime der nächſten Generation ein-
geſchachtelt vorhanden ſeien, und ſo weiter, in infinitum! Dieſem
Dogma der „Ovuliſten“-Schule ſtand gegenüber eine andere,
ebenſo irrthümliche Anſicht, die der „Animalkuliſten“; dieſe
glaubten, daß der eigentliche Keim nicht in der weiblichen Eizelle
der Mutter, ſondern in der männlichen Spermazelle des Vaters liege,
und daß in dieſem „Samenthierchen“ (Spermatozoon) die Ein-
ſchachtelung der Generations-Reihen zu ſuchen ſei.

Leibniz übertrug dieſe Einſchachtelungs-Lehre ganz folge-
richtig auch auf die menſchliche Seele; er leugnete für ſie eine
wahre Entwickelung (Epigeneſiſ) ebenſo wie für den Körper
und ſagte in ſeinen Theodicee: „So ſollte ich meinen, daß die
Seelen, welche eines Tages menſchliche Seelen ſein werden, im
Samen, wie jene von anderen Species, dageweſen ſind; daß ſie
in den Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit dem Anfang der
Dinge, immer in der Form organiſirter Körper exiſtirt haben.“
Aehnliche Vorſtellungen erhielten ſich ſowohl in der Biologie wie
in der Philoſophie noch bis in das dritte Decennium unſeres
Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der Keimesgeſchichte durch
Baer den Todesſtoß verſetzte. Im Gebiete der Pſychologie
haben ſie aber ſelbſt bis auf den heutigen Tag noch vielfach
Geltung; ſie ſtellen nur eine Gruppe unter den vielen ſeltſamen,
myſtiſchen Vorſtellungen dar, welche die Ontogenie der Pſyche
auch heute noch aufweiſt.

Mythologie des Seelen-Urſprungs. Die näheren Auf-
ſchlüſſe, welche wir durch die vergleichende Ethnologie neuerdings

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[157/0173] VIII. Einſchachtelung der Seele. gebildet oder präformirt ſei; die „Entwickelung“ des Keimes beſtehe eigentlich nur in einer „Auswickelung“ (Evolutio) der eingewickelten Theile. Als nothwendiger Folgeſchluß dieſes Irr- thums ergab ſich daraus weiterhin die oben erwähnte Einſchach- telungs-Theorie (S. 65); da im weiblichen Embryo bereits der Eierſtock vorhanden wäre, mußte man annehmen, daß in deſſen Eiern wieder ſchon die Keime der nächſten Generation ein- geſchachtelt vorhanden ſeien, und ſo weiter, in infinitum! Dieſem Dogma der „Ovuliſten“-Schule ſtand gegenüber eine andere, ebenſo irrthümliche Anſicht, die der „Animalkuliſten“; dieſe glaubten, daß der eigentliche Keim nicht in der weiblichen Eizelle der Mutter, ſondern in der männlichen Spermazelle des Vaters liege, und daß in dieſem „Samenthierchen“ (Spermatozoon) die Ein- ſchachtelung der Generations-Reihen zu ſuchen ſei. Leibniz übertrug dieſe Einſchachtelungs-Lehre ganz folge- richtig auch auf die menſchliche Seele; er leugnete für ſie eine wahre Entwickelung (Epigeneſiſ) ebenſo wie für den Körper und ſagte in ſeinen Theodicee: „So ſollte ich meinen, daß die Seelen, welche eines Tages menſchliche Seelen ſein werden, im Samen, wie jene von anderen Species, dageweſen ſind; daß ſie in den Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit dem Anfang der Dinge, immer in der Form organiſirter Körper exiſtirt haben.“ Aehnliche Vorſtellungen erhielten ſich ſowohl in der Biologie wie in der Philoſophie noch bis in das dritte Decennium unſeres Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der Keimesgeſchichte durch Baer den Todesſtoß verſetzte. Im Gebiete der Pſychologie haben ſie aber ſelbſt bis auf den heutigen Tag noch vielfach Geltung; ſie ſtellen nur eine Gruppe unter den vielen ſeltſamen, myſtiſchen Vorſtellungen dar, welche die Ontogenie der Pſyche auch heute noch aufweiſt. Mythologie des Seelen-Urſprungs. Die näheren Auf- ſchlüſſe, welche wir durch die vergleichende Ethnologie neuerdings

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/173>, abgerufen am 29.04.2024.