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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Philosophie der Sinnlichkeit. XVI.
physiologischen und weiterhin auch der morphologischen Eigen-
schaften dieser Oberhautstellen, und damit zugleich veränderten
sich die sensiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen
Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbesserte Schritt
für Schritt die besonderen Umbildungen derselben, welche sich als
nützlich erwiesen, und schuf so zuletzt im Laufe vieler Jahr-
millionen jene bewunderungswürdigen Instrumente, welche als
Auge und Ohr unsere theuersten Güter darstellen; ihre Ein-
richtung ist so wunderbar zweckmäßig, daß sie uns zu der irrthüm-
lichen Annahme einer "Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan"
führen könnten. Die besondere Eigenthümlichkeit jedes Sinnes-
organes und seines specifischen Nerven hat sich also erst durch
Gewohnheit und Uebung -- d. h. durch Anpassung -- all-
mählich entwickelt und ist dann durch Vererbung von Gene-
ration zu Generation übertragen worden. Albrecht Rau hat
diese Auffassung ausführlich begründet in seinem vortrefflichen
Werke über "Empfinden und Denken; eine physiologische Unter-
suchung über die Natur des menschlichen Verstandes" (1896).
Dort ist sowohl die richtige Deutung des Müller'schen Gesetzes
von den specifischen Sinnes-Energien gegeben als auch scharf-
sinnige Erörterungen über ihre Beziehungen zum Gehirn und
besonders im letzten Kapitel eine ausgezeichnete, auf den Schultern
von Ludwig Feuerbach stehende "Philosophie der
Sinnlichkeit
"; ich schließe mich diesen überzeugenden Aus-
führungen durchaus an.

Grenzen der Sinneswahrnehmung. Die kritische Ver-
gleichung der Sinnesthätigkeit beim Menschen und bei den übrigen
Wirbelthieren ergiebt eine Anzahl überaus wichtiger Thatsachen,
welche wir erst den eingehenden Forschungen des 19. Jahrhunderts
und besonders seiner zweiten Hälfte verdanken. Ganz besonders
gilt dies von den beiden höchstentwickelten, den "ästhetischen
Sinneswerkzeugen", Auge und Ohr. Dieselben zeigen im Stamme

Philoſophie der Sinnlichkeit. XVI.
phyſiologiſchen und weiterhin auch der morphologiſchen Eigen-
ſchaften dieſer Oberhautſtellen, und damit zugleich veränderten
ſich die ſenſiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen
Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbeſſerte Schritt
für Schritt die beſonderen Umbildungen derſelben, welche ſich als
nützlich erwieſen, und ſchuf ſo zuletzt im Laufe vieler Jahr-
millionen jene bewunderungswürdigen Inſtrumente, welche als
Auge und Ohr unſere theuerſten Güter darſtellen; ihre Ein-
richtung iſt ſo wunderbar zweckmäßig, daß ſie uns zu der irrthüm-
lichen Annahme einer „Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan“
führen könnten. Die beſondere Eigenthümlichkeit jedes Sinnes-
organes und ſeines ſpecifiſchen Nerven hat ſich alſo erſt durch
Gewohnheit und Uebung — d. h. durch Anpaſſung — all-
mählich entwickelt und iſt dann durch Vererbung von Gene-
ration zu Generation übertragen worden. Albrecht Rau hat
dieſe Auffaſſung ausführlich begründet in ſeinem vortrefflichen
Werke über „Empfinden und Denken; eine phyſiologiſche Unter-
ſuchung über die Natur des menſchlichen Verſtandes“ (1896).
Dort iſt ſowohl die richtige Deutung des Müller'ſchen Geſetzes
von den ſpecifiſchen Sinnes-Energien gegeben als auch ſcharf-
ſinnige Erörterungen über ihre Beziehungen zum Gehirn und
beſonders im letzten Kapitel eine ausgezeichnete, auf den Schultern
von Ludwig Feuerbach ſtehende „Philoſophie der
Sinnlichkeit
“; ich ſchließe mich dieſen überzeugenden Aus-
führungen durchaus an.

Grenzen der Sinneswahrnehmung. Die kritiſche Ver-
gleichung der Sinnesthätigkeit beim Menſchen und bei den übrigen
Wirbelthieren ergiebt eine Anzahl überaus wichtiger Thatſachen,
welche wir erſt den eingehenden Forſchungen des 19. Jahrhunderts
und beſonders ſeiner zweiten Hälfte verdanken. Ganz beſonders
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[342/0358] Philoſophie der Sinnlichkeit. XVI. phyſiologiſchen und weiterhin auch der morphologiſchen Eigen- ſchaften dieſer Oberhautſtellen, und damit zugleich veränderten ſich die ſenſiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbeſſerte Schritt für Schritt die beſonderen Umbildungen derſelben, welche ſich als nützlich erwieſen, und ſchuf ſo zuletzt im Laufe vieler Jahr- millionen jene bewunderungswürdigen Inſtrumente, welche als Auge und Ohr unſere theuerſten Güter darſtellen; ihre Ein- richtung iſt ſo wunderbar zweckmäßig, daß ſie uns zu der irrthüm- lichen Annahme einer „Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan“ führen könnten. Die beſondere Eigenthümlichkeit jedes Sinnes- organes und ſeines ſpecifiſchen Nerven hat ſich alſo erſt durch Gewohnheit und Uebung — d. h. durch Anpaſſung — all- mählich entwickelt und iſt dann durch Vererbung von Gene- ration zu Generation übertragen worden. Albrecht Rau hat dieſe Auffaſſung ausführlich begründet in ſeinem vortrefflichen Werke über „Empfinden und Denken; eine phyſiologiſche Unter- ſuchung über die Natur des menſchlichen Verſtandes“ (1896). Dort iſt ſowohl die richtige Deutung des Müller'ſchen Geſetzes von den ſpecifiſchen Sinnes-Energien gegeben als auch ſcharf- ſinnige Erörterungen über ihre Beziehungen zum Gehirn und beſonders im letzten Kapitel eine ausgezeichnete, auf den Schultern von Ludwig Feuerbach ſtehende „Philoſophie der Sinnlichkeit“; ich ſchließe mich dieſen überzeugenden Aus- führungen durchaus an. Grenzen der Sinneswahrnehmung. Die kritiſche Ver- gleichung der Sinnesthätigkeit beim Menſchen und bei den übrigen Wirbelthieren ergiebt eine Anzahl überaus wichtiger Thatſachen, welche wir erſt den eingehenden Forſchungen des 19. Jahrhunderts und beſonders ſeiner zweiten Hälfte verdanken. Ganz beſonders gilt dies von den beiden höchſtentwickelten, den „äſthetiſchen Sinneswerkzeugen“, Auge und Ohr. Dieſelben zeigen im Stamme

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/358>, abgerufen am 29.04.2024.