Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

XVI. Täuschungen des Spiritismus.
Physiker und Biologen sich dadurch haben irre führen lassen,
erklärt sich theils aus ihrem Uebermaß an Phantasie und
Kritikmangel, theils aus dem mächtigen Einfluß starrer Dogmen,
welche religiöse Verziehung dem kindlichen Gehirn in frühester
Jugend schon einprägt. Uebrigens ist gerade bei den berühmten
spiritistischen Vorstellungen in Leipzig, in welchen die Physiker
Zöllner, Fechner und Wilhelm Weber durch den schlauen
Taschenspieler Slade irre geführt wurden, der Schwindel des
letzteren nachträglich klar zu Tage gekommen; Slade selbst
wurde als gemeiner Betrüger erkannt und entlarvt. Auch in
allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen "Wunder des
Spiritismus" gründlich untersucht werden konnten, hat sich als
Ursache derselben eine gröbere oder feinere Täuschung heraus-
gestellt, und die sogenannten "Medien" (meist weiblichen Ge-
schlechts) sind theils als schlaue Schwindler entlarvt, theils als
nervöse Personen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt worden.
Ihre angebliche Telepathie (oder "Fernwirkung des Gedankens
ohne materielle Vermittelung") existirt ebenso wenig als die
"Stimmen der Geister", die "Seufzer der Gespenster" u. s. w.
Die lebhaften Schilderungen, welche Carl du Prel in München
und andere Spiritisten von solchen "Geister-Erscheinungen" geben,
sind durch die Thätigkeit einer erregten Phantasie, verbunden mit
Mangel an Kritik und an physiologischen Kenntnissen, zu erklären.

Offenbarung (Nevelation). Die meisten Religionen haben
trotz ihrer mannigfaltigen Verschiedenheit einen gemeinsamen
Grundzug, der zugleich eine ihrer mächtigsten Stützen in weiten
Kreisen bildet; sie behaupten, die Räthsel des Daseins, deren
Lösung auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich
ist, auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu können;
zugleich leiten sie daraus die Geltung der Dogmen oder Glaubens-
sätze ab, welche als "göttliche Gesetze" die Sittenlehre ordnen
und die Lebensführung bestimmen sollen. Derartige göttliche

Haeckel, Welträthsel. 23

XVI. Täuſchungen des Spiritismus.
Phyſiker und Biologen ſich dadurch haben irre führen laſſen,
erklärt ſich theils aus ihrem Uebermaß an Phantaſie und
Kritikmangel, theils aus dem mächtigen Einfluß ſtarrer Dogmen,
welche religiöſe Verziehung dem kindlichen Gehirn in früheſter
Jugend ſchon einprägt. Uebrigens iſt gerade bei den berühmten
ſpiritiſtiſchen Vorſtellungen in Leipzig, in welchen die Phyſiker
Zöllner, Fechner und Wilhelm Weber durch den ſchlauen
Taſchenſpieler Slade irre geführt wurden, der Schwindel des
letzteren nachträglich klar zu Tage gekommen; Slade ſelbſt
wurde als gemeiner Betrüger erkannt und entlarvt. Auch in
allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen „Wunder des
Spiritismus“ gründlich unterſucht werden konnten, hat ſich als
Urſache derſelben eine gröbere oder feinere Täuſchung heraus-
geſtellt, und die ſogenannten „Medien“ (meiſt weiblichen Ge-
ſchlechts) ſind theils als ſchlaue Schwindler entlarvt, theils als
nervöſe Perſonen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt worden.
Ihre angebliche Telepathie (oder „Fernwirkung des Gedankens
ohne materielle Vermittelung“) exiſtirt ebenſo wenig als die
„Stimmen der Geiſter“, die „Seufzer der Geſpenſter“ u. ſ. w.
Die lebhaften Schilderungen, welche Carl du Prel in München
und andere Spiritiſten von ſolchen „Geiſter-Erſcheinungen“ geben,
ſind durch die Thätigkeit einer erregten Phantaſie, verbunden mit
Mangel an Kritik und an phyſiologiſchen Kenntniſſen, zu erklären.

Offenbarung (Nevelation). Die meiſten Religionen haben
trotz ihrer mannigfaltigen Verſchiedenheit einen gemeinſamen
Grundzug, der zugleich eine ihrer mächtigſten Stützen in weiten
Kreiſen bildet; ſie behaupten, die Räthſel des Daſeins, deren
Löſung auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich
iſt, auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu können;
zugleich leiten ſie daraus die Geltung der Dogmen oder Glaubens-
ſätze ab, welche als „göttliche Geſetze“ die Sittenlehre ordnen
und die Lebensführung beſtimmen ſollen. Derartige göttliche

Haeckel, Welträthſel. 23
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0369" n="353"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XVI.</hi> Täu&#x017F;chungen des Spiritismus.</fw><lb/>
Phy&#x017F;iker und Biologen &#x017F;ich dadurch haben irre führen la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
erklärt &#x017F;ich theils aus ihrem Uebermaß an Phanta&#x017F;ie und<lb/>
Kritikmangel, theils aus dem mächtigen Einfluß &#x017F;tarrer Dogmen,<lb/>
welche religiö&#x017F;e Verziehung dem kindlichen Gehirn in frühe&#x017F;ter<lb/>
Jugend &#x017F;chon einprägt. Uebrigens i&#x017F;t gerade bei den berühmten<lb/>
&#x017F;piriti&#x017F;ti&#x017F;chen Vor&#x017F;tellungen in Leipzig, in welchen die Phy&#x017F;iker<lb/><hi rendition="#g">Zöllner, Fechner</hi> und <hi rendition="#g">Wilhelm Weber</hi> durch den &#x017F;chlauen<lb/>
Ta&#x017F;chen&#x017F;pieler <hi rendition="#g">Slade</hi> irre geführt wurden, der Schwindel des<lb/>
letzteren nachträglich klar zu Tage gekommen; <hi rendition="#g">Slade</hi> &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
wurde als gemeiner Betrüger erkannt und entlarvt. Auch in<lb/>
allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen &#x201E;Wunder des<lb/>
Spiritismus&#x201C; gründlich unter&#x017F;ucht werden konnten, hat &#x017F;ich als<lb/>
Ur&#x017F;ache der&#x017F;elben eine gröbere oder feinere Täu&#x017F;chung heraus-<lb/>
ge&#x017F;tellt, und die &#x017F;ogenannten &#x201E;Medien&#x201C; (mei&#x017F;t weiblichen Ge-<lb/>
&#x017F;chlechts) &#x017F;ind theils als &#x017F;chlaue Schwindler entlarvt, theils als<lb/>
nervö&#x017F;e Per&#x017F;onen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt worden.<lb/>
Ihre angebliche <hi rendition="#g">Telepathie</hi> (oder &#x201E;Fernwirkung des Gedankens<lb/>
ohne materielle Vermittelung&#x201C;) exi&#x017F;tirt eben&#x017F;o wenig als die<lb/>
&#x201E;Stimmen der Gei&#x017F;ter&#x201C;, die &#x201E;Seufzer der Ge&#x017F;pen&#x017F;ter&#x201C; u. &#x017F;. w.<lb/>
Die lebhaften Schilderungen, welche <hi rendition="#g">Carl du Prel</hi> in München<lb/>
und andere Spiriti&#x017F;ten von &#x017F;olchen &#x201E;Gei&#x017F;ter-Er&#x017F;cheinungen&#x201C; geben,<lb/>
&#x017F;ind durch die Thätigkeit einer erregten Phanta&#x017F;ie, verbunden mit<lb/>
Mangel an Kritik und an phy&#x017F;iologi&#x017F;chen Kenntni&#x017F;&#x017F;en, zu erklären.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Offenbarung</hi> (Nevelation). Die mei&#x017F;ten Religionen haben<lb/>
trotz ihrer mannigfaltigen Ver&#x017F;chiedenheit einen gemein&#x017F;amen<lb/>
Grundzug, der zugleich eine ihrer mächtig&#x017F;ten Stützen in weiten<lb/>
Krei&#x017F;en bildet; &#x017F;ie behaupten, die Räth&#x017F;el des Da&#x017F;eins, deren<lb/>&#x017F;ung auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich<lb/>
i&#x017F;t, auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu können;<lb/>
zugleich leiten &#x017F;ie daraus die Geltung der Dogmen oder Glaubens-<lb/>
&#x017F;ätze ab, welche als &#x201E;göttliche Ge&#x017F;etze&#x201C; die Sittenlehre ordnen<lb/>
und die Lebensführung be&#x017F;timmen &#x017F;ollen. Derartige göttliche<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Haeckel,</hi> Welträth&#x017F;el. 23</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[353/0369] XVI. Täuſchungen des Spiritismus. Phyſiker und Biologen ſich dadurch haben irre führen laſſen, erklärt ſich theils aus ihrem Uebermaß an Phantaſie und Kritikmangel, theils aus dem mächtigen Einfluß ſtarrer Dogmen, welche religiöſe Verziehung dem kindlichen Gehirn in früheſter Jugend ſchon einprägt. Uebrigens iſt gerade bei den berühmten ſpiritiſtiſchen Vorſtellungen in Leipzig, in welchen die Phyſiker Zöllner, Fechner und Wilhelm Weber durch den ſchlauen Taſchenſpieler Slade irre geführt wurden, der Schwindel des letzteren nachträglich klar zu Tage gekommen; Slade ſelbſt wurde als gemeiner Betrüger erkannt und entlarvt. Auch in allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen „Wunder des Spiritismus“ gründlich unterſucht werden konnten, hat ſich als Urſache derſelben eine gröbere oder feinere Täuſchung heraus- geſtellt, und die ſogenannten „Medien“ (meiſt weiblichen Ge- ſchlechts) ſind theils als ſchlaue Schwindler entlarvt, theils als nervöſe Perſonen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt worden. Ihre angebliche Telepathie (oder „Fernwirkung des Gedankens ohne materielle Vermittelung“) exiſtirt ebenſo wenig als die „Stimmen der Geiſter“, die „Seufzer der Geſpenſter“ u. ſ. w. Die lebhaften Schilderungen, welche Carl du Prel in München und andere Spiritiſten von ſolchen „Geiſter-Erſcheinungen“ geben, ſind durch die Thätigkeit einer erregten Phantaſie, verbunden mit Mangel an Kritik und an phyſiologiſchen Kenntniſſen, zu erklären. Offenbarung (Nevelation). Die meiſten Religionen haben trotz ihrer mannigfaltigen Verſchiedenheit einen gemeinſamen Grundzug, der zugleich eine ihrer mächtigſten Stützen in weiten Kreiſen bildet; ſie behaupten, die Räthſel des Daſeins, deren Löſung auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich iſt, auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu können; zugleich leiten ſie daraus die Geltung der Dogmen oder Glaubens- ſätze ab, welche als „göttliche Geſetze“ die Sittenlehre ordnen und die Lebensführung beſtimmen ſollen. Derartige göttliche Haeckel, Welträthſel. 23

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/369
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/369>, abgerufen am 27.04.2024.