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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

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IV. Abschnitt. Das Sehen.

Ueberhaupt wäre das Sehen ohne dergleichen Kräfte
nimmermehr vollkommen geworden (l). Es muß nem-
lich sowol in der Camera obscura (m), als an dem künst-
lichen Auge (n), die Nezzhaut, wofern das Bild auf
sie fallen soll, beweglich sein, damit sie sich der Linse nähe-
re, wenn man entfernte Dinge zu sehen hat, und hinge-
gen davon abgerükkt werde, wenn man nahe Dinge be-
sieht, und daß an einem dergleichen Auge, eine grössere
Veränderung, als an einem lebendigen Auge erfordert
werde. Wenigstens müsse man eine Linse gebrauchen,
wofern man das Object zurükk rükkte, wenn man nicht
wollte, daß das Bild sich verwirren sollte (o). So gehe
es nicht einmal am menschlichen Auge an, daß einerlei
Auge sowol nahe, als entfernte Dinge deutlich sehen soll-
te (o*), wofern es sich nicht verändern liesse, weil es auf
keinerlei Weise möglich sei, daß Strahlen von entfern-
ten Körpern, welche von drei Fuß herkämen, den
Brennpunkt auf eben den Punkt der Nezzhaut fallen
lassen sollten, auf welchen der Brennpunkt naher Körper,
die nur drei Zoll weit abstehen, fällt (p). Nothwendig
müsse jener näher, dieser aber von der Hornhaut entfern-
ter sein.

Nun sehen aber Menschen, dem ohngeachtet doch,
wie jedermann weiß, sowol nahe, als entfernte Dinge
deutlich (q). Selbst die Kurzsichtige, können feine Schrif-
ten in Entfernungen lesen, da eine doppelt so weit als die
andere abstehet, und folglich können sich auch die Augen

die-
(l) [Spaltenumbruch] SCHEINER L. III. P. I. c.
18. Le CAT p. 489. PORTER-
FIELD I. p. 390 SMITH n. 85.
S' GRAVEZANDE n. 3089. MUS-
SCHENBROECK n. 1209. seq.
(m) SCHEINER p. 125.
(n) BAYLE p. 476.
(o) Le MOINE diss. cit.
(o*) Sehen wir zugleich auf na-
he und entfernte Dinge, so erblik-
[Spaltenumbruch] ken wir selbige nur verwirrt. le
CAT p.
492.
(p) KEPLER prop. 63. SCHEI-
NER p. 173. IURIN p. 133 134.
S' GRAVFZANDE l. c. MUS-
SCHENBROECK Ess. pag. 570.
SMITH remarks n. 13. 14. DER-
HAM physic. theol. p.
103.
(q) Le CLERC point de vue
pag.
79.
S s s 2
IV. Abſchnitt. Das Sehen.

Ueberhaupt waͤre das Sehen ohne dergleichen Kraͤfte
nimmermehr vollkommen geworden (l). Es muß nem-
lich ſowol in der Camera obſcura (m), als an dem kuͤnſt-
lichen Auge (n), die Nezzhaut, wofern das Bild auf
ſie fallen ſoll, beweglich ſein, damit ſie ſich der Linſe naͤhe-
re, wenn man entfernte Dinge zu ſehen hat, und hinge-
gen davon abgeruͤkkt werde, wenn man nahe Dinge be-
ſieht, und daß an einem dergleichen Auge, eine groͤſſere
Veraͤnderung, als an einem lebendigen Auge erfordert
werde. Wenigſtens muͤſſe man eine Linſe gebrauchen,
wofern man das Object zuruͤkk ruͤkkte, wenn man nicht
wollte, daß das Bild ſich verwirren ſollte (o). So gehe
es nicht einmal am menſchlichen Auge an, daß einerlei
Auge ſowol nahe, als entfernte Dinge deutlich ſehen ſoll-
te (o*), wofern es ſich nicht veraͤndern lieſſe, weil es auf
keinerlei Weiſe moͤglich ſei, daß Strahlen von entfern-
ten Koͤrpern, welche von drei Fuß herkaͤmen, den
Brennpunkt auf eben den Punkt der Nezzhaut fallen
laſſen ſollten, auf welchen der Brennpunkt naher Koͤrper,
die nur drei Zoll weit abſtehen, faͤllt (p). Nothwendig
muͤſſe jener naͤher, dieſer aber von der Hornhaut entfern-
ter ſein.

Nun ſehen aber Menſchen, dem ohngeachtet doch,
wie jedermann weiß, ſowol nahe, als entfernte Dinge
deutlich (q). Selbſt die Kurzſichtige, koͤnnen feine Schrif-
ten in Entfernungen leſen, da eine doppelt ſo weit als die
andere abſtehet, und folglich koͤnnen ſich auch die Augen

die-
(l) [Spaltenumbruch] SCHEINER L. III. P. I. c.
18. Le CAT p. 489. PORTER-
FIELD I. p. 390 SMITH n. 85.
S’ GRAVEZANDE n. 3089. MUS-
SCHENBROECK n. 1209. ſeq.
(m) SCHEINER p. 125.
(n) BAYLE p. 476.
(o) Le MOINE diſſ. cit.
(o*) Sehen wir zugleich auf na-
he und entfernte Dinge, ſo erblik-
[Spaltenumbruch] ken wir ſelbige nur verwirrt. le
CAT p.
492.
(p) KEPLER prop. 63. SCHEI-
NER p. 173. IURIN p. 133 134.
S’ GRAVFZANDE l. c. MUS-
SCHENBROECK Eſſ. pag. 570.
SMITH remarks n. 13. 14. DER-
HAM phyſic. theol. p.
103.
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pag.
79.
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[1011/1029] IV. Abſchnitt. Das Sehen. Ueberhaupt waͤre das Sehen ohne dergleichen Kraͤfte nimmermehr vollkommen geworden (l). Es muß nem- lich ſowol in der Camera obſcura (m), als an dem kuͤnſt- lichen Auge (n), die Nezzhaut, wofern das Bild auf ſie fallen ſoll, beweglich ſein, damit ſie ſich der Linſe naͤhe- re, wenn man entfernte Dinge zu ſehen hat, und hinge- gen davon abgeruͤkkt werde, wenn man nahe Dinge be- ſieht, und daß an einem dergleichen Auge, eine groͤſſere Veraͤnderung, als an einem lebendigen Auge erfordert werde. Wenigſtens muͤſſe man eine Linſe gebrauchen, wofern man das Object zuruͤkk ruͤkkte, wenn man nicht wollte, daß das Bild ſich verwirren ſollte (o). So gehe es nicht einmal am menſchlichen Auge an, daß einerlei Auge ſowol nahe, als entfernte Dinge deutlich ſehen ſoll- te (o*), wofern es ſich nicht veraͤndern lieſſe, weil es auf keinerlei Weiſe moͤglich ſei, daß Strahlen von entfern- ten Koͤrpern, welche von drei Fuß herkaͤmen, den Brennpunkt auf eben den Punkt der Nezzhaut fallen laſſen ſollten, auf welchen der Brennpunkt naher Koͤrper, die nur drei Zoll weit abſtehen, faͤllt (p). Nothwendig muͤſſe jener naͤher, dieſer aber von der Hornhaut entfern- ter ſein. Nun ſehen aber Menſchen, dem ohngeachtet doch, wie jedermann weiß, ſowol nahe, als entfernte Dinge deutlich (q). Selbſt die Kurzſichtige, koͤnnen feine Schrif- ten in Entfernungen leſen, da eine doppelt ſo weit als die andere abſtehet, und folglich koͤnnen ſich auch die Augen die- (l) SCHEINER L. III. P. I. c. 18. Le CAT p. 489. PORTER- FIELD I. p. 390 SMITH n. 85. S’ GRAVEZANDE n. 3089. MUS- SCHENBROECK n. 1209. ſeq. (m) SCHEINER p. 125. (n) BAYLE p. 476. (o) Le MOINE diſſ. cit. (o*) Sehen wir zugleich auf na- he und entfernte Dinge, ſo erblik- ken wir ſelbige nur verwirrt. le CAT p. 492. (p) KEPLER prop. 63. SCHEI- NER p. 173. IURIN p. 133 134. S’ GRAVFZANDE l. c. MUS- SCHENBROECK Eſſ. pag. 570. SMITH remarks n. 13. 14. DER- HAM phyſic. theol. p. 103. (q) Le CLERC point de vue pag. 79. S s s 2

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1011. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1029>, abgerufen am 02.05.2024.