Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Verstand. XVII. Buch.

Wir reden hier also überhaupt von den Jrrthümern
unsrer Seele. Wir irren bei den einfachen Jdeen seltner:
und gemeiniglich darum, daß wir uns die Theile der zu-
sammengesezzten Begriffe nicht alle nach der Ordnung
vorstellen, dennoch aber von den wenigen, die uns bekannt
geworden, auf alle schliessen. Dieses ist der Betrug bei
den Hipothesen, so oft in einem zusammengesezzten Be-
griffe einige Dinge mit der Sache selbst übereinstimmen,
und wir daraus schliessen, daß auch das übrige damit
übereinstimmen werde. Es ist dieses, wie man leicht sieht,
ein Jrrthum unsers Willens, welcher theils von der
Trägheit, die Arbeit weiter fortzusezzen, um sich alle beson-
dre Jdeen, die den zusammengesezzten Begriff ausmachen,
gehörig bekannt zu machen; theils von der Eitelkeit her-
rührt, welche sich zu bestimmen, und zu lehren anmast,
was sie selbst nicht erst gelernt hat.

Gemeiniglich stekkt der Jrrthum bei phisiologischen
Dingen darinnen, daß wir in dem Bau einen Theil,
als bekannt und zuverläßig annehmen, welcher weder be-
kannt, noch gewis ist: hierauf aber mechanische, hidrau-
lische oder andre Regeln appliciren, um die Erscheinung
zu erklären, welche wahr und gewis wären, wosern es
mit der Erscheinung selbst seine Richtigkeit hätte. Hier-
von haben wir bei dem Schlagen des Herzens, und der
Bewegung der Muskeln Exempel gegeben.

Auch daher haben sich unendlich viele Jrrthümer in
die Arzeneikunst und Phisiologie eingeschlichen, daß man
einmal gesehene Phänomena, für beständig gehalten. So
hat man die peristaltische Bewegung der Gedärme geläug-
net, und so hat man die vom Athemholen zunehmende
Bewegung des Gehirns widerlegt: und dieses haben
Männer unternommen, die nicht den mindesten Zweifel
erregen würden, wenn es ihnen nur beliebet hätte, beide
Phänomena oft und zu wiederholtenmalen in Augenschein
zu nehmen.

Ein
Der Verſtand. XVII. Buch.

Wir reden hier alſo uͤberhaupt von den Jrrthuͤmern
unſrer Seele. Wir irren bei den einfachen Jdeen ſeltner:
und gemeiniglich darum, daß wir uns die Theile der zu-
ſammengeſezzten Begriffe nicht alle nach der Ordnung
vorſtellen, dennoch aber von den wenigen, die uns bekannt
geworden, auf alle ſchlieſſen. Dieſes iſt der Betrug bei
den Hipotheſen, ſo oft in einem zuſammengeſezzten Be-
griffe einige Dinge mit der Sache ſelbſt uͤbereinſtimmen,
und wir daraus ſchlieſſen, daß auch das uͤbrige damit
uͤbereinſtimmen werde. Es iſt dieſes, wie man leicht ſieht,
ein Jrrthum unſers Willens, welcher theils von der
Traͤgheit, die Arbeit weiter fortzuſezzen, um ſich alle beſon-
dre Jdeen, die den zuſammengeſezzten Begriff ausmachen,
gehoͤrig bekannt zu machen; theils von der Eitelkeit her-
ruͤhrt, welche ſich zu beſtimmen, und zu lehren anmaſt,
was ſie ſelbſt nicht erſt gelernt hat.

Gemeiniglich ſtekkt der Jrrthum bei phiſiologiſchen
Dingen darinnen, daß wir in dem Bau einen Theil,
als bekannt und zuverlaͤßig annehmen, welcher weder be-
kannt, noch gewis iſt: hierauf aber mechaniſche, hidrau-
liſche oder andre Regeln appliciren, um die Erſcheinung
zu erklaͤren, welche wahr und gewis waͤren, woſern es
mit der Erſcheinung ſelbſt ſeine Richtigkeit haͤtte. Hier-
von haben wir bei dem Schlagen des Herzens, und der
Bewegung der Muſkeln Exempel gegeben.

Auch daher haben ſich unendlich viele Jrrthuͤmer in
die Arzeneikunſt und Phiſiologie eingeſchlichen, daß man
einmal geſehene Phaͤnomena, fuͤr beſtaͤndig gehalten. So
hat man die periſtaltiſche Bewegung der Gedaͤrme gelaͤug-
net, und ſo hat man die vom Athemholen zunehmende
Bewegung des Gehirns widerlegt: und dieſes haben
Maͤnner unternommen, die nicht den mindeſten Zweifel
erregen wuͤrden, wenn es ihnen nur beliebet haͤtte, beide
Phaͤnomena oft und zu wiederholtenmalen in Augenſchein
zu nehmen.

Ein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f1112" n="1094"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Der Ver&#x017F;tand. <hi rendition="#aq">XVII.</hi> Buch.</hi> </fw><lb/>
            <p>Wir reden hier al&#x017F;o u&#x0364;berhaupt von den Jrrthu&#x0364;mern<lb/>
un&#x017F;rer Seele. Wir irren bei den einfachen Jdeen &#x017F;eltner:<lb/>
und gemeiniglich darum, daß wir uns die Theile der zu-<lb/>
&#x017F;ammenge&#x017F;ezzten Begriffe nicht alle nach der Ordnung<lb/>
vor&#x017F;tellen, dennoch aber von den wenigen, die uns bekannt<lb/>
geworden, auf alle &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;es i&#x017F;t der Betrug bei<lb/>
den Hipothe&#x017F;en, &#x017F;o oft in einem zu&#x017F;ammenge&#x017F;ezzten Be-<lb/>
griffe einige Dinge mit der Sache &#x017F;elb&#x017F;t u&#x0364;berein&#x017F;timmen,<lb/>
und wir daraus &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, daß auch das u&#x0364;brige damit<lb/>
u&#x0364;berein&#x017F;timmen werde. Es i&#x017F;t die&#x017F;es, wie man leicht &#x017F;ieht,<lb/>
ein Jrrthum un&#x017F;ers Willens, welcher theils von der<lb/>
Tra&#x0364;gheit, die Arbeit weiter fortzu&#x017F;ezzen, um &#x017F;ich alle be&#x017F;on-<lb/>
dre Jdeen, die den zu&#x017F;ammenge&#x017F;ezzten Begriff ausmachen,<lb/>
geho&#x0364;rig bekannt zu machen; theils von der Eitelkeit her-<lb/>
ru&#x0364;hrt, welche &#x017F;ich zu be&#x017F;timmen, und zu lehren anma&#x017F;t,<lb/>
was &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t nicht er&#x017F;t gelernt hat.</p><lb/>
            <p>Gemeiniglich &#x017F;tekkt der Jrrthum bei phi&#x017F;iologi&#x017F;chen<lb/>
Dingen darinnen, daß wir in dem Bau einen Theil,<lb/>
als bekannt und zuverla&#x0364;ßig annehmen, welcher weder be-<lb/>
kannt, noch gewis i&#x017F;t: hierauf aber mechani&#x017F;che, hidrau-<lb/>
li&#x017F;che oder andre Regeln appliciren, um die Er&#x017F;cheinung<lb/>
zu erkla&#x0364;ren, welche wahr und gewis wa&#x0364;ren, wo&#x017F;ern es<lb/>
mit der Er&#x017F;cheinung &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;eine Richtigkeit ha&#x0364;tte. Hier-<lb/>
von haben wir bei dem Schlagen des Herzens, und der<lb/>
Bewegung der Mu&#x017F;keln Exempel gegeben.</p><lb/>
            <p>Auch daher haben &#x017F;ich unendlich viele Jrrthu&#x0364;mer in<lb/>
die Arzeneikun&#x017F;t und Phi&#x017F;iologie einge&#x017F;chlichen, daß man<lb/>
einmal ge&#x017F;ehene Pha&#x0364;nomena, fu&#x0364;r be&#x017F;ta&#x0364;ndig gehalten. So<lb/>
hat man die peri&#x017F;talti&#x017F;che Bewegung der Geda&#x0364;rme gela&#x0364;ug-<lb/>
net, und &#x017F;o hat man die vom Athemholen zunehmende<lb/>
Bewegung des Gehirns widerlegt: und die&#x017F;es haben<lb/>
Ma&#x0364;nner unternommen, die nicht den minde&#x017F;ten Zweifel<lb/>
erregen wu&#x0364;rden, wenn es ihnen nur beliebet ha&#x0364;tte, beide<lb/>
Pha&#x0364;nomena oft und zu wiederholtenmalen in Augen&#x017F;chein<lb/>
zu nehmen.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Ein</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1094/1112] Der Verſtand. XVII. Buch. Wir reden hier alſo uͤberhaupt von den Jrrthuͤmern unſrer Seele. Wir irren bei den einfachen Jdeen ſeltner: und gemeiniglich darum, daß wir uns die Theile der zu- ſammengeſezzten Begriffe nicht alle nach der Ordnung vorſtellen, dennoch aber von den wenigen, die uns bekannt geworden, auf alle ſchlieſſen. Dieſes iſt der Betrug bei den Hipotheſen, ſo oft in einem zuſammengeſezzten Be- griffe einige Dinge mit der Sache ſelbſt uͤbereinſtimmen, und wir daraus ſchlieſſen, daß auch das uͤbrige damit uͤbereinſtimmen werde. Es iſt dieſes, wie man leicht ſieht, ein Jrrthum unſers Willens, welcher theils von der Traͤgheit, die Arbeit weiter fortzuſezzen, um ſich alle beſon- dre Jdeen, die den zuſammengeſezzten Begriff ausmachen, gehoͤrig bekannt zu machen; theils von der Eitelkeit her- ruͤhrt, welche ſich zu beſtimmen, und zu lehren anmaſt, was ſie ſelbſt nicht erſt gelernt hat. Gemeiniglich ſtekkt der Jrrthum bei phiſiologiſchen Dingen darinnen, daß wir in dem Bau einen Theil, als bekannt und zuverlaͤßig annehmen, welcher weder be- kannt, noch gewis iſt: hierauf aber mechaniſche, hidrau- liſche oder andre Regeln appliciren, um die Erſcheinung zu erklaͤren, welche wahr und gewis waͤren, woſern es mit der Erſcheinung ſelbſt ſeine Richtigkeit haͤtte. Hier- von haben wir bei dem Schlagen des Herzens, und der Bewegung der Muſkeln Exempel gegeben. Auch daher haben ſich unendlich viele Jrrthuͤmer in die Arzeneikunſt und Phiſiologie eingeſchlichen, daß man einmal geſehene Phaͤnomena, fuͤr beſtaͤndig gehalten. So hat man die periſtaltiſche Bewegung der Gedaͤrme gelaͤug- net, und ſo hat man die vom Athemholen zunehmende Bewegung des Gehirns widerlegt: und dieſes haben Maͤnner unternommen, die nicht den mindeſten Zweifel erregen wuͤrden, wenn es ihnen nur beliebet haͤtte, beide Phaͤnomena oft und zu wiederholtenmalen in Augenſchein zu nehmen. Ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1112
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1094. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1112>, abgerufen am 08.05.2024.