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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

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Der Schlaf. XVII. Buch.
vernünftigen Thieren offenbare Exempel haben (a), daß
sie träumen.

Es mögen nun Träume beständig sein, oder doch öf-
ters vorkommen, so ist es doch an sich gewis, daß die
Seele oftmals im Schlafe nicht müßig ist, sondern eben
so, wie im Wachen, ein Schauspiel auf einanderfolgen-
der Empfindungen und Begriffe vor Augen hat, und sich
im Slafe (b) Reihen von Bildern vorstellt, welche aus
den hinterlassnen Spuren der vorigen Empfindungen, die
dem Gehirn eingedrükkt worden, ihren Ursprung bekom-
men. Bei dieser Vorstellung der Bilder ist sich die See-
le ihrer selbst bewust, sie urtheilt, und schliest (c), sie ge-
braucht sich ihres Willens, sie leidet alle Affekten, die
viel lebhafter, als im Wachen sind, und sie sieht sich bald
in die äusserste Kümmernisse und Aengstlichkeit, oder in
ein heftiges Schrekken, und übermäßige Freude versezzt.

Jch werde kürzlich erzählen, was ich an den Träu-
men beobachtet habe; denn ich habe von meiner Jugend
an, auf mich, wenn ich träumte, acht gegeben, und den
Betrug der Phantasie wahrgenommen, die uns überre-
den wollen, daß sie ausser uns anzutreffen sei. Jndessen
konnte ich mich doch ein andermal, wenn ich verstor-
bene Freunde sah, mich nicht von dem Jrrthum überzeu-
gen, und war dennoch nicht über ihren unverhoften An-
blikk erschrokken (d). So erwachte derjenige, welcher,
wie wir gemeldet haben, den steifen Vorsazz hatte, die
Nachtbeflekkungen zu meiden, sobald er eine Empfindung
von dem lüsternen Bilde zu bekommen anfieng (e).

Bisweilen entstehen Träume aus einer gegenwärtigen
Empfindung (f), öfters aber aus einer vergangnen: Aus

einer
(a) [Spaltenumbruch] Vierfüßige lebendig gebäh-
rende träumen ARISTOTELES
hist. anim. L. IV. c.
10.
(b) BONNET p. 42.
(c) Letres d' un Americain T.
VI. p.
229.
(d) Dieses sagt auch MURATO-
RI p.
60.
(e) [Spaltenumbruch] ONANISME p. 208.
(f) FORMFY p. 328. MEYER
Nachtwandler
doch auch die inner-
liche Empfindung begreift unter die-
sem Nahmen WOLF Empir. p.
78. 79.

Der Schlaf. XVII. Buch.
vernuͤnftigen Thieren offenbare Exempel haben (a), daß
ſie traͤumen.

Es moͤgen nun Traͤume beſtaͤndig ſein, oder doch oͤf-
ters vorkommen, ſo iſt es doch an ſich gewis, daß die
Seele oftmals im Schlafe nicht muͤßig iſt, ſondern eben
ſo, wie im Wachen, ein Schauſpiel auf einanderfolgen-
der Empfindungen und Begriffe vor Augen hat, und ſich
im Slafe (b) Reihen von Bildern vorſtellt, welche aus
den hinterlaſſnen Spuren der vorigen Empfindungen, die
dem Gehirn eingedruͤkkt worden, ihren Urſprung bekom-
men. Bei dieſer Vorſtellung der Bilder iſt ſich die See-
le ihrer ſelbſt bewuſt, ſie urtheilt, und ſchlieſt (c), ſie ge-
braucht ſich ihres Willens, ſie leidet alle Affekten, die
viel lebhafter, als im Wachen ſind, und ſie ſieht ſich bald
in die aͤuſſerſte Kuͤmmerniſſe und Aengſtlichkeit, oder in
ein heftiges Schrekken, und uͤbermaͤßige Freude verſezzt.

Jch werde kuͤrzlich erzaͤhlen, was ich an den Traͤu-
men beobachtet habe; denn ich habe von meiner Jugend
an, auf mich, wenn ich traͤumte, acht gegeben, und den
Betrug der Phantaſie wahrgenommen, die uns uͤberre-
den wollen, daß ſie auſſer uns anzutreffen ſei. Jndeſſen
konnte ich mich doch ein andermal, wenn ich verſtor-
bene Freunde ſah, mich nicht von dem Jrrthum uͤberzeu-
gen, und war dennoch nicht uͤber ihren unverhoften An-
blikk erſchrokken (d). So erwachte derjenige, welcher,
wie wir gemeldet haben, den ſteifen Vorſazz hatte, die
Nachtbeflekkungen zu meiden, ſobald er eine Empfindung
von dem luͤſternen Bilde zu bekommen anfieng (e).

Bisweilen entſtehen Traͤume aus einer gegenwaͤrtigen
Empfindung (f), oͤfters aber aus einer vergangnen: Aus

einer
(a) [Spaltenumbruch] Vierfuͤßige lebendig gebaͤh-
rende traͤumen ARISTOTELES
hiſt. anim. L. IV. c.
10.
(b) BONNET p. 42.
(c) Letres d’ un Americain T.
VI. p.
229.
(d) Dieſes ſagt auch MURATO-
RI p.
60.
(e) [Spaltenumbruch] ONANISME p. 208.
(f) FORMFY p. 328. MEYER
Nachtwandler
doch auch die inner-
liche Empfindung begreift unter die-
ſem Nahmen WOLF Empir. p.
78. 79.
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[1176/1194] Der Schlaf. XVII. Buch. vernuͤnftigen Thieren offenbare Exempel haben (a), daß ſie traͤumen. Es moͤgen nun Traͤume beſtaͤndig ſein, oder doch oͤf- ters vorkommen, ſo iſt es doch an ſich gewis, daß die Seele oftmals im Schlafe nicht muͤßig iſt, ſondern eben ſo, wie im Wachen, ein Schauſpiel auf einanderfolgen- der Empfindungen und Begriffe vor Augen hat, und ſich im Slafe (b) Reihen von Bildern vorſtellt, welche aus den hinterlaſſnen Spuren der vorigen Empfindungen, die dem Gehirn eingedruͤkkt worden, ihren Urſprung bekom- men. Bei dieſer Vorſtellung der Bilder iſt ſich die See- le ihrer ſelbſt bewuſt, ſie urtheilt, und ſchlieſt (c), ſie ge- braucht ſich ihres Willens, ſie leidet alle Affekten, die viel lebhafter, als im Wachen ſind, und ſie ſieht ſich bald in die aͤuſſerſte Kuͤmmerniſſe und Aengſtlichkeit, oder in ein heftiges Schrekken, und uͤbermaͤßige Freude verſezzt. Jch werde kuͤrzlich erzaͤhlen, was ich an den Traͤu- men beobachtet habe; denn ich habe von meiner Jugend an, auf mich, wenn ich traͤumte, acht gegeben, und den Betrug der Phantaſie wahrgenommen, die uns uͤberre- den wollen, daß ſie auſſer uns anzutreffen ſei. Jndeſſen konnte ich mich doch ein andermal, wenn ich verſtor- bene Freunde ſah, mich nicht von dem Jrrthum uͤberzeu- gen, und war dennoch nicht uͤber ihren unverhoften An- blikk erſchrokken (d). So erwachte derjenige, welcher, wie wir gemeldet haben, den ſteifen Vorſazz hatte, die Nachtbeflekkungen zu meiden, ſobald er eine Empfindung von dem luͤſternen Bilde zu bekommen anfieng (e). Bisweilen entſtehen Traͤume aus einer gegenwaͤrtigen Empfindung (f), oͤfters aber aus einer vergangnen: Aus einer (a) Vierfuͤßige lebendig gebaͤh- rende traͤumen ARISTOTELES hiſt. anim. L. IV. c. 10. (b) BONNET p. 42. (c) Letres d’ un Americain T. VI. p. 229. (d) Dieſes ſagt auch MURATO- RI p. 60. (e) ONANISME p. 208. (f) FORMFY p. 328. MEYER Nachtwandler doch auch die inner- liche Empfindung begreift unter die- ſem Nahmen WOLF Empir. p. 78. 79.

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1194>, abgerufen am 30.04.2024.