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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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Erstes Buch. §. 46.
fahr drohen. So kann der Ausbruch einer Revolution zur Auf-
stellung eines Grenzcordons, die Bildung einer Propaganda zur
Verbreitung aufrührerischer Grundsätze in einem Staate zu stren-
ger polizeilicher Abschließung gegen denselben, auch wohl zur For-
derung von Sicherheiten berechtigen; die schon wirkliche Verletzung
von Interessen anderer Staaten aber zu Retorsionsmitteln ver-
anlassen. Ungewöhnliche Kriegszurüstungen im Inneren eines Staa-
tes ohne deutlich erkennbaren Zweck berechtigen die dadurch mög-
licher Weise bedrohten Staaten zu Anfragen über den Zweck und
zur Forderung bestimmter Erklärungen, 1 welche ohne Beleidigung
nicht verweigert werden können (§. 30. 31.).

Kriegsunternehmungen eines Staates gegen einen anderen kön-
nen dritte Staaten zu politischen Maaßregeln ermächtigen, daß
nicht durch den Erfolg das bisherige Gleichgewicht gestört werde,
indem durch freundschaftliche Interposition der Zweck oder die
Grenze der Unternehmung bestimmt wird, oder indem man durch
Defensivbündnisse mit anderen ein Gegengewicht zu bilden sucht,
oder sich selbst zum Kriege rüstet, um seine eigenen und gemeinsa-
men Rechte aller Staaten im Fall der Verletzung aufrecht zu er-
halten (La paix armee). Daß der deutlich ausgesprochene Zweck
der Gründung einer Universalherrschaft Kriegserklärung gegen Alle
sei, ward schon oben §. 30 a. E. bemerkt.

Zusatz. Die Staatspraxis ist, anstatt sich mit bloßen Interpositionen oder
Sicherungsmitteln zu begnügen, oft zu wirklicher Intervention geschritten.
Verhandlungen über die große Frage haben unter anderen die Französischen
Staatsumwälzungen, die Congresse von Troppau, Laibach und Verona, die
Belgische Angelegenheit mit sich geführt. Aber es hat dabei nicht an Mei-
nungsverschiedenheiten gefehlt. Man vergl. Wheaton, Intern. Law II, 1, 4.
Heiberg, a. a. O.

46. So oft es sich nun weder von drohenden Rechtsverletzun-
gen oder Gefahren handelt, kann selbst die schreiendste Ungerechtig-
keit, welche in einem Staate begangen wird, keinen anderen zu ei-
nem eigenwilligen Einschreiten gegen den ersteren berechtigen; denn
kein Staat ist zum Richter des anderen gesetzt. Indessen gebietet
und rechtfertigt die moralische Pflicht den Versuch gütlicher In-

1 J. J. Moser, Vers. VI, 398. F. C. v. Moser, vom Rechte eines Sou-
veräns, den anderen zur Rede zu stellen. Kl. Schr. VI, 287. Günther,
I, 293. Dort finden sich Beispiele der Praxis des vorigen Jahrhunderts.
Auch die neueste Zeit hat dergleichen.

Erſtes Buch. §. 46.
fahr drohen. So kann der Ausbruch einer Revolution zur Auf-
ſtellung eines Grenzcordons, die Bildung einer Propaganda zur
Verbreitung aufrühreriſcher Grundſätze in einem Staate zu ſtren-
ger polizeilicher Abſchließung gegen denſelben, auch wohl zur For-
derung von Sicherheiten berechtigen; die ſchon wirkliche Verletzung
von Intereſſen anderer Staaten aber zu Retorſionsmitteln ver-
anlaſſen. Ungewöhnliche Kriegszurüſtungen im Inneren eines Staa-
tes ohne deutlich erkennbaren Zweck berechtigen die dadurch mög-
licher Weiſe bedrohten Staaten zu Anfragen über den Zweck und
zur Forderung beſtimmter Erklärungen, 1 welche ohne Beleidigung
nicht verweigert werden können (§. 30. 31.).

Kriegsunternehmungen eines Staates gegen einen anderen kön-
nen dritte Staaten zu politiſchen Maaßregeln ermächtigen, daß
nicht durch den Erfolg das bisherige Gleichgewicht geſtört werde,
indem durch freundſchaftliche Interpoſition der Zweck oder die
Grenze der Unternehmung beſtimmt wird, oder indem man durch
Defenſivbündniſſe mit anderen ein Gegengewicht zu bilden ſucht,
oder ſich ſelbſt zum Kriege rüſtet, um ſeine eigenen und gemeinſa-
men Rechte aller Staaten im Fall der Verletzung aufrecht zu er-
halten (La paix armée). Daß der deutlich ausgeſprochene Zweck
der Gründung einer Univerſalherrſchaft Kriegserklärung gegen Alle
ſei, ward ſchon oben §. 30 a. E. bemerkt.

Zuſatz. Die Staatspraxis iſt, anſtatt ſich mit bloßen Interpoſitionen oder
Sicherungsmitteln zu begnügen, oft zu wirklicher Intervention geſchritten.
Verhandlungen über die große Frage haben unter anderen die Franzöſiſchen
Staatsumwälzungen, die Congreſſe von Troppau, Laibach und Verona, die
Belgiſche Angelegenheit mit ſich geführt. Aber es hat dabei nicht an Mei-
nungsverſchiedenheiten gefehlt. Man vergl. Wheaton, Intern. Law II, 1, 4.
Heiberg, a. a. O.

46. So oft es ſich nun weder von drohenden Rechtsverletzun-
gen oder Gefahren handelt, kann ſelbſt die ſchreiendſte Ungerechtig-
keit, welche in einem Staate begangen wird, keinen anderen zu ei-
nem eigenwilligen Einſchreiten gegen den erſteren berechtigen; denn
kein Staat iſt zum Richter des anderen geſetzt. Indeſſen gebietet
und rechtfertigt die moraliſche Pflicht den Verſuch gütlicher In-

1 J. J. Moſer, Verſ. VI, 398. F. C. v. Moſer, vom Rechte eines Sou-
veräns, den anderen zur Rede zu ſtellen. Kl. Schr. VI, 287. Günther,
I, 293. Dort finden ſich Beiſpiele der Praxis des vorigen Jahrhunderts.
Auch die neueſte Zeit hat dergleichen.
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[88/0112] Erſtes Buch. §. 46. fahr drohen. So kann der Ausbruch einer Revolution zur Auf- ſtellung eines Grenzcordons, die Bildung einer Propaganda zur Verbreitung aufrühreriſcher Grundſätze in einem Staate zu ſtren- ger polizeilicher Abſchließung gegen denſelben, auch wohl zur For- derung von Sicherheiten berechtigen; die ſchon wirkliche Verletzung von Intereſſen anderer Staaten aber zu Retorſionsmitteln ver- anlaſſen. Ungewöhnliche Kriegszurüſtungen im Inneren eines Staa- tes ohne deutlich erkennbaren Zweck berechtigen die dadurch mög- licher Weiſe bedrohten Staaten zu Anfragen über den Zweck und zur Forderung beſtimmter Erklärungen, 1 welche ohne Beleidigung nicht verweigert werden können (§. 30. 31.). Kriegsunternehmungen eines Staates gegen einen anderen kön- nen dritte Staaten zu politiſchen Maaßregeln ermächtigen, daß nicht durch den Erfolg das bisherige Gleichgewicht geſtört werde, indem durch freundſchaftliche Interpoſition der Zweck oder die Grenze der Unternehmung beſtimmt wird, oder indem man durch Defenſivbündniſſe mit anderen ein Gegengewicht zu bilden ſucht, oder ſich ſelbſt zum Kriege rüſtet, um ſeine eigenen und gemeinſa- men Rechte aller Staaten im Fall der Verletzung aufrecht zu er- halten (La paix armée). Daß der deutlich ausgeſprochene Zweck der Gründung einer Univerſalherrſchaft Kriegserklärung gegen Alle ſei, ward ſchon oben §. 30 a. E. bemerkt. Zuſatz. Die Staatspraxis iſt, anſtatt ſich mit bloßen Interpoſitionen oder Sicherungsmitteln zu begnügen, oft zu wirklicher Intervention geſchritten. Verhandlungen über die große Frage haben unter anderen die Franzöſiſchen Staatsumwälzungen, die Congreſſe von Troppau, Laibach und Verona, die Belgiſche Angelegenheit mit ſich geführt. Aber es hat dabei nicht an Mei- nungsverſchiedenheiten gefehlt. Man vergl. Wheaton, Intern. Law II, 1, 4. Heiberg, a. a. O. 46. So oft es ſich nun weder von drohenden Rechtsverletzun- gen oder Gefahren handelt, kann ſelbſt die ſchreiendſte Ungerechtig- keit, welche in einem Staate begangen wird, keinen anderen zu ei- nem eigenwilligen Einſchreiten gegen den erſteren berechtigen; denn kein Staat iſt zum Richter des anderen geſetzt. Indeſſen gebietet und rechtfertigt die moraliſche Pflicht den Verſuch gütlicher In- 1 J. J. Moſer, Verſ. VI, 398. F. C. v. Moſer, vom Rechte eines Sou- veräns, den anderen zur Rede zu ſtellen. Kl. Schr. VI, 287. Günther, I, 293. Dort finden ſich Beiſpiele der Praxis des vorigen Jahrhunderts. Auch die neueſte Zeit hat dergleichen.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/112>, abgerufen am 29.04.2024.