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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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§. 216. Die Formen des völkerrechtlichen Verkehres.
barkeit von Seiten des absendenden Souveräns bedurft haben und
noch bedürfen; die Verhängung von Criminalstrafen aber würde ei-
nem Botschafter in seinem Hotel ebensowenig von dem auswärtigen
Staate, worin er sich befindet, nachgesehen werden, als man jene
einem fremden Souverän selbst gestatten würde. Nur in den mu-
selmännischen Staaten des Orients ist meistens den europäischen
Abgeordneten eine umfassende Gerichtsbarkeit, besonders in Straf-
sachen "gemäß den Gebräuchen der Franken" bewilligt, so wie man
den muselmännischen Gesandten an europäischen Höfen eine unbe-
schränkte Gerichtsbarkeit über ihre Leute gestattet oder nachgesehen
hat. 1 Unter den europäischen Mächten selbst hingegen ist sie nur
auf eine sehr untergeordnete Thätigkeit beschränkt und dem vater-
ländischen Staate die volle Gerichtsbarkeit vorbehalten.

Jene Thätigkeit besteht nun

a. in Criminalfällen, woran sich ein Angehöriger der Gesandt-
schaft betheiligt, in der Festnahme des Verdächtigen oder
Nachsuchung seiner Auslieferung; in der Constatirung des
Thatbestandes, soweit sie in der gesandtschaftlichen Localität
möglich ist, eventuell in desfallsigen Requisitionen an die
auswärtigen Behörden, sodann in der Vernehmung der zur
Gesandtschaft gehörigen Zeugen, hiernächst in der Ablieferung
an die Behörden der Heimath zur weiteren Verfügung; über-
haupt also in dem s. g. Recht des ersten Angriffs und wei-
terhin in der Ausführung der Requisitionen der heimathlichen
Gerichte. Zur Auslieferung an die Gerichte des fremden
Staates ist dagegen kein Gesandter vermöge eigener Aucto-
rität berechtigt, schon wegen des obigen Princips (§. 63. V.);
b. in der Ausübung einer freiwilligen Gerichtsbarkeit zu Gun-
sten der Angehörigen der Gesandtschaft; namentlich also in
Aufnahme und Legalisirung von Testamenten, Beglaubigung
von Contracten, Siegelanlegungen und dgl. Soll diese Ge-
richtsbarkeit auch noch von anderen Staatsgenossen des ab-
sendenden Staates benutzt werden dürfen, so gehört dazu ohne
Zweifel ein besonderer Auftrag; der fremde Staat würde sie
überdies in den ihn betreffenden Angelegenheiten nicht anzu-
erkennen haben. --

Das Recht einer Privatgerichtsbarkeit ist den Gesandten an euro-

1 Moser Beitr. IV, 256.
23*

§. 216. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.
barkeit von Seiten des abſendenden Souveräns bedurft haben und
noch bedürfen; die Verhängung von Criminalſtrafen aber würde ei-
nem Botſchafter in ſeinem Hotel ebenſowenig von dem auswärtigen
Staate, worin er ſich befindet, nachgeſehen werden, als man jene
einem fremden Souverän ſelbſt geſtatten würde. Nur in den mu-
ſelmänniſchen Staaten des Orients iſt meiſtens den europäiſchen
Abgeordneten eine umfaſſende Gerichtsbarkeit, beſonders in Straf-
ſachen „gemäß den Gebräuchen der Franken“ bewilligt, ſo wie man
den muſelmänniſchen Geſandten an europäiſchen Höfen eine unbe-
ſchränkte Gerichtsbarkeit über ihre Leute geſtattet oder nachgeſehen
hat. 1 Unter den europäiſchen Mächten ſelbſt hingegen iſt ſie nur
auf eine ſehr untergeordnete Thätigkeit beſchränkt und dem vater-
ländiſchen Staate die volle Gerichtsbarkeit vorbehalten.

Jene Thätigkeit beſteht nun

a. in Criminalfällen, woran ſich ein Angehöriger der Geſandt-
ſchaft betheiligt, in der Feſtnahme des Verdächtigen oder
Nachſuchung ſeiner Auslieferung; in der Conſtatirung des
Thatbeſtandes, ſoweit ſie in der geſandtſchaftlichen Localität
möglich iſt, eventuell in desfallſigen Requiſitionen an die
auswärtigen Behörden, ſodann in der Vernehmung der zur
Geſandtſchaft gehörigen Zeugen, hiernächſt in der Ablieferung
an die Behörden der Heimath zur weiteren Verfügung; über-
haupt alſo in dem ſ. g. Recht des erſten Angriffs und wei-
terhin in der Ausführung der Requiſitionen der heimathlichen
Gerichte. Zur Auslieferung an die Gerichte des fremden
Staates iſt dagegen kein Geſandter vermöge eigener Aucto-
rität berechtigt, ſchon wegen des obigen Princips (§. 63. V.);
b. in der Ausübung einer freiwilligen Gerichtsbarkeit zu Gun-
ſten der Angehörigen der Geſandtſchaft; namentlich alſo in
Aufnahme und Legaliſirung von Teſtamenten, Beglaubigung
von Contracten, Siegelanlegungen und dgl. Soll dieſe Ge-
richtsbarkeit auch noch von anderen Staatsgenoſſen des ab-
ſendenden Staates benutzt werden dürfen, ſo gehört dazu ohne
Zweifel ein beſonderer Auftrag; der fremde Staat würde ſie
überdies in den ihn betreffenden Angelegenheiten nicht anzu-
erkennen haben. —

Das Recht einer Privatgerichtsbarkeit iſt den Geſandten an euro-

1 Moſer Beitr. IV, 256.
23*
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[355/0379] §. 216. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres. barkeit von Seiten des abſendenden Souveräns bedurft haben und noch bedürfen; die Verhängung von Criminalſtrafen aber würde ei- nem Botſchafter in ſeinem Hotel ebenſowenig von dem auswärtigen Staate, worin er ſich befindet, nachgeſehen werden, als man jene einem fremden Souverän ſelbſt geſtatten würde. Nur in den mu- ſelmänniſchen Staaten des Orients iſt meiſtens den europäiſchen Abgeordneten eine umfaſſende Gerichtsbarkeit, beſonders in Straf- ſachen „gemäß den Gebräuchen der Franken“ bewilligt, ſo wie man den muſelmänniſchen Geſandten an europäiſchen Höfen eine unbe- ſchränkte Gerichtsbarkeit über ihre Leute geſtattet oder nachgeſehen hat. 1 Unter den europäiſchen Mächten ſelbſt hingegen iſt ſie nur auf eine ſehr untergeordnete Thätigkeit beſchränkt und dem vater- ländiſchen Staate die volle Gerichtsbarkeit vorbehalten. Jene Thätigkeit beſteht nun a. in Criminalfällen, woran ſich ein Angehöriger der Geſandt- ſchaft betheiligt, in der Feſtnahme des Verdächtigen oder Nachſuchung ſeiner Auslieferung; in der Conſtatirung des Thatbeſtandes, ſoweit ſie in der geſandtſchaftlichen Localität möglich iſt, eventuell in desfallſigen Requiſitionen an die auswärtigen Behörden, ſodann in der Vernehmung der zur Geſandtſchaft gehörigen Zeugen, hiernächſt in der Ablieferung an die Behörden der Heimath zur weiteren Verfügung; über- haupt alſo in dem ſ. g. Recht des erſten Angriffs und wei- terhin in der Ausführung der Requiſitionen der heimathlichen Gerichte. Zur Auslieferung an die Gerichte des fremden Staates iſt dagegen kein Geſandter vermöge eigener Aucto- rität berechtigt, ſchon wegen des obigen Princips (§. 63. V.); b. in der Ausübung einer freiwilligen Gerichtsbarkeit zu Gun- ſten der Angehörigen der Geſandtſchaft; namentlich alſo in Aufnahme und Legaliſirung von Teſtamenten, Beglaubigung von Contracten, Siegelanlegungen und dgl. Soll dieſe Ge- richtsbarkeit auch noch von anderen Staatsgenoſſen des ab- ſendenden Staates benutzt werden dürfen, ſo gehört dazu ohne Zweifel ein beſonderer Auftrag; der fremde Staat würde ſie überdies in den ihn betreffenden Angelegenheiten nicht anzu- erkennen haben. — Das Recht einer Privatgerichtsbarkeit iſt den Geſandten an euro- 1 Moſer Beitr. IV, 256. 23*

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/379>, abgerufen am 28.04.2024.