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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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der Schneider-Herberge und verirren sich im Dun¬
keln; Strohhalm und Kohle wollen über den Bach
setzen und verunglücken; Schippe und Besen stehen
auf der Treppe und zanken und schmeißen sich; der
befragte Spiegel zeigt das Bild der schönsten Frau;
sogar die Blutstropfen fangen an zu sprechen, bange,
dunkle Worte des besorglichsten Mitleids. -- Aus
demselben Grunde ist unser Leben in der Kindheit
so unendlich bedeutend, in jener Zeit ist uns Alles
gleich wichtig, wir hören Alles, wir sehen Alles,
bey allen Eindrücken ist Gleichmäßigkeit, statt daß
wir späterhin absichtlicher werden, uns mit dem
Einzelnen ausschließlicher beschäftigen, das klare
Gold der Anschauung für das Papiergeld der Bü¬
cher-Definitionen mühsam einwechseln, und an Le¬
bensbreite gewinnen, was wir an Lebenstiefe ver¬
lieren. Jetzt sind wir ausgewachsene, vornehme
Leute; wir beziehen oft neue Wohnungen, die Magd
räumt täglich auf, und verändert nach Gutdünken
die Stellung der Möbeln, die uns wenig interessi¬
ren, da sie entweder neu sind, oder heute dem

der Schneider-Herberge und verirren ſich im Dun¬
keln; Strohhalm und Kohle wollen uͤber den Bach
ſetzen und verungluͤcken; Schippe und Beſen ſtehen
auf der Treppe und zanken und ſchmeißen ſich; der
befragte Spiegel zeigt das Bild der ſchoͤnſten Frau;
ſogar die Blutstropfen fangen an zu ſprechen, bange,
dunkle Worte des beſorglichſten Mitleids. — Aus
demſelben Grunde iſt unſer Leben in der Kindheit
ſo unendlich bedeutend, in jener Zeit iſt uns Alles
gleich wichtig, wir hoͤren Alles, wir ſehen Alles,
bey allen Eindruͤcken iſt Gleichmaͤßigkeit, ſtatt daß
wir ſpaͤterhin abſichtlicher werden, uns mit dem
Einzelnen ausſchließlicher beſchaͤftigen, das klare
Gold der Anſchauung fuͤr das Papiergeld der Buͤ¬
cher-Definitionen muͤhſam einwechſeln, und an Le¬
bensbreite gewinnen, was wir an Lebenstiefe ver¬
lieren. Jetzt ſind wir ausgewachſene, vornehme
Leute; wir beziehen oft neue Wohnungen, die Magd
raͤumt taͤglich auf, und veraͤndert nach Gutduͤnken
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[153/0165] der Schneider-Herberge und verirren ſich im Dun¬ keln; Strohhalm und Kohle wollen uͤber den Bach ſetzen und verungluͤcken; Schippe und Beſen ſtehen auf der Treppe und zanken und ſchmeißen ſich; der befragte Spiegel zeigt das Bild der ſchoͤnſten Frau; ſogar die Blutstropfen fangen an zu ſprechen, bange, dunkle Worte des beſorglichſten Mitleids. — Aus demſelben Grunde iſt unſer Leben in der Kindheit ſo unendlich bedeutend, in jener Zeit iſt uns Alles gleich wichtig, wir hoͤren Alles, wir ſehen Alles, bey allen Eindruͤcken iſt Gleichmaͤßigkeit, ſtatt daß wir ſpaͤterhin abſichtlicher werden, uns mit dem Einzelnen ausſchließlicher beſchaͤftigen, das klare Gold der Anſchauung fuͤr das Papiergeld der Buͤ¬ cher-Definitionen muͤhſam einwechſeln, und an Le¬ bensbreite gewinnen, was wir an Lebenstiefe ver¬ lieren. Jetzt ſind wir ausgewachſene, vornehme Leute; wir beziehen oft neue Wohnungen, die Magd raͤumt taͤglich auf, und veraͤndert nach Gutduͤnken die Stellung der Moͤbeln, die uns wenig intereſſi¬ ren, da ſie entweder neu ſind, oder heute dem

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/165>, abgerufen am 03.05.2024.