Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

so bereuete sie es gleich und nahm einen Ku¬
chen, brach ihn entzwey, und gab mir die eine
und dem braunen Dachse die andere Hälfte,
und lächelte dann und sprach: "Ihr beide habt
keine Religion und werdet nicht selig, und man
muß Euch auf dieser Welt mit Kuchen füttern,
da für Euch im Himmel kein Tisch gedeckt
wird." So halb und halb hatte sie Recht, ich
war damals sehr irreligiös und las den Tho¬
mas Paine, das Systeme de la nature, den
westphälischen Anzeiger und den Schleiermacher,
und ließ mir den Bart und den Verstand wach¬
sen, und wollte unter die Rationalisten gehen.
Aber wenn mir die schöne Hand über die Stirne
fuhr, blieb mir der Verstand stehen, und süßes
Träumen erfüllte mich, und ich glaubte wieder
fromme Marienliedchen zu hören, und ich
dachte an die kleine Veronika.

Madame, Sie können sich kaum vorstellen,
wie hübsch die kleine Veronika aussah, als sie

ſo bereuete ſie es gleich und nahm einen Ku¬
chen, brach ihn entzwey, und gab mir die eine
und dem braunen Dachſe die andere Haͤlfte,
und laͤchelte dann und ſprach: „Ihr beide habt
keine Religion und werdet nicht ſelig, und man
muß Euch auf dieſer Welt mit Kuchen fuͤttern,
da fuͤr Euch im Himmel kein Tiſch gedeckt
wird.“ So halb und halb hatte ſie Recht, ich
war damals ſehr irreligioͤs und las den Tho¬
mas Paine, das Système de la nature, den
weſtphaͤliſchen Anzeiger und den Schleiermacher,
und ließ mir den Bart und den Verſtand wach¬
ſen, und wollte unter die Rationaliſten gehen.
Aber wenn mir die ſchoͤne Hand uͤber die Stirne
fuhr, blieb mir der Verſtand ſtehen, und ſuͤßes
Traͤumen erfuͤllte mich, und ich glaubte wieder
fromme Marienliedchen zu hoͤren, und ich
dachte an die kleine Veronika.

Madame, Sie koͤnnen ſich kaum vorſtellen,
wie huͤbſch die kleine Veronika ausſah, als ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0289" n="281"/>
&#x017F;o bereuete &#x017F;ie es gleich und nahm einen Ku¬<lb/>
chen, brach ihn entzwey, und gab mir die eine<lb/>
und dem braunen Dach&#x017F;e die andere Ha&#x0364;lfte,<lb/>
und la&#x0364;chelte dann und &#x017F;prach: &#x201E;Ihr beide habt<lb/>
keine Religion und werdet nicht &#x017F;elig, und man<lb/>
muß Euch auf die&#x017F;er Welt mit Kuchen fu&#x0364;ttern,<lb/>
da fu&#x0364;r Euch im Himmel kein Ti&#x017F;ch gedeckt<lb/>
wird.&#x201C; So halb und halb hatte &#x017F;ie Recht, ich<lb/>
war damals &#x017F;ehr irreligio&#x0364;s und las den Tho¬<lb/>
mas Paine, das <hi rendition="#aq">Système de la nature</hi>, den<lb/>
we&#x017F;tpha&#x0364;li&#x017F;chen Anzeiger und den Schleiermacher,<lb/>
und ließ mir den Bart und den Ver&#x017F;tand wach¬<lb/>
&#x017F;en, und wollte unter die Rationali&#x017F;ten gehen.<lb/>
Aber wenn mir die &#x017F;cho&#x0364;ne Hand u&#x0364;ber die Stirne<lb/>
fuhr, blieb mir der Ver&#x017F;tand &#x017F;tehen, und &#x017F;u&#x0364;ßes<lb/>
Tra&#x0364;umen erfu&#x0364;llte mich, und ich glaubte wieder<lb/>
fromme Marienliedchen zu ho&#x0364;ren, und ich<lb/>
dachte an die kleine Veronika.</p><lb/>
          <p>Madame, Sie ko&#x0364;nnen &#x017F;ich kaum vor&#x017F;tellen,<lb/>
wie hu&#x0364;b&#x017F;ch die kleine <choice><sic>Voronika</sic><corr>Veronika</corr></choice> aus&#x017F;ah, als &#x017F;ie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0289] ſo bereuete ſie es gleich und nahm einen Ku¬ chen, brach ihn entzwey, und gab mir die eine und dem braunen Dachſe die andere Haͤlfte, und laͤchelte dann und ſprach: „Ihr beide habt keine Religion und werdet nicht ſelig, und man muß Euch auf dieſer Welt mit Kuchen fuͤttern, da fuͤr Euch im Himmel kein Tiſch gedeckt wird.“ So halb und halb hatte ſie Recht, ich war damals ſehr irreligioͤs und las den Tho¬ mas Paine, das Système de la nature, den weſtphaͤliſchen Anzeiger und den Schleiermacher, und ließ mir den Bart und den Verſtand wach¬ ſen, und wollte unter die Rationaliſten gehen. Aber wenn mir die ſchoͤne Hand uͤber die Stirne fuhr, blieb mir der Verſtand ſtehen, und ſuͤßes Traͤumen erfuͤllte mich, und ich glaubte wieder fromme Marienliedchen zu hoͤren, und ich dachte an die kleine Veronika. Madame, Sie koͤnnen ſich kaum vorſtellen, wie huͤbſch die kleine Veronika ausſah, als ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/289
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/289>, abgerufen am 05.05.2024.