Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

hiedurch aber vollständig, bestimmt als eine solche und
keine andre. So gewiss sie nun dieses Object wirklich
vorstellt, eben so gewiss ist sie keinesweges ein Stre-
ben
vorzustellen; denn die Eigenschaft des Strebens geht
erst hervor in der Hemmung durch ein hinzukommendes
entgegengesetztes. Es ist auch in ihr gar keine Activi-
tät, die auf etwas Fremdes, und gleichsam Aeusseres
gerichtet wäre; denn ihrem Begriffe nach besteht eine
Vorstellung nur im Erzeugen und Vesthalten ihres vor-
gestellten Bildes; darin erschöpft sie sich, und ausserdem
ist in ihr nichts zu finden. -- Erst indem sie in einem
und demselben Subject mit einer andern ihr entgegenste-
henden Vorstellung zusammentrifft, kommt ihr die Acti-
vität, wodurch sie über sich selbst hinausgeht. Sie drängt
die andre, weil sie von der andern gedrängt wird; beyde
aber drängen einander vermöge des unter ihnen entste-
henden Gegensatzes. Dieser Gegensatz ist wiederum kein
Prädicat weder der einen noch der andern, einzeln ge-
nommen; sondern eine formale Bestimmung, welche nur
in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn und
Bedeutung hat. Wer den Ton c hört, der hört ihn für
sich und durch sich selbst, nicht aber als entgegengesetz-
tes von d. Desgleichen, wer den Ton d hört, der hört
den einfachen Klang d ohne Gegensatz gegen c. Aber
wer die Töne c und d beyde hört, oder beyder Vorstel-
lungen zugleich im Bewusstseyn hat, der vernimmt nicht
bloss die Summe c und d, sondern auch überdem den
Contrast beyder, und sein Vorstellen ist der Wirkung
des Gegensatzes beyder unterworfen. Eben so, wer sich
in das Anschaun des ungetrübten Himmels versenkt, der
sieht reines Blau ohne Gegensatz, und diese Vorstellung
ist für sich vollständig; aber dasselbe reine Blau ist fä-
hig in unendlich viele Contraste einzugehn, gegen andre
und andre Farben. Wollte man diese Contraste, und
die dazu gehörigen hemmenden Kräfte der Vorstellungen,
für inwohnende Bestimmungen derselben Vorstellungen
halten, so wäre keine Vorstellung etwas für sich; es

hiedurch aber vollständig, bestimmt als eine solche und
keine andre. So gewiſs sie nun dieses Object wirklich
vorstellt, eben so gewiſs ist sie keinesweges ein Stre-
ben
vorzustellen; denn die Eigenschaft des Strebens geht
erst hervor in der Hemmung durch ein hinzukommendes
entgegengesetztes. Es ist auch in ihr gar keine Activi-
tät, die auf etwas Fremdes, und gleichsam Aeuſseres
gerichtet wäre; denn ihrem Begriffe nach besteht eine
Vorstellung nur im Erzeugen und Vesthalten ihres vor-
gestellten Bildes; darin erschöpft sie sich, und auſserdem
ist in ihr nichts zu finden. — Erst indem sie in einem
und demselben Subject mit einer andern ihr entgegenste-
henden Vorstellung zusammentrifft, kommt ihr die Acti-
vität, wodurch sie über sich selbst hinausgeht. Sie drängt
die andre, weil sie von der andern gedrängt wird; beyde
aber drängen einander vermöge des unter ihnen entste-
henden Gegensatzes. Dieser Gegensatz ist wiederum kein
Prädicat weder der einen noch der andern, einzeln ge-
nommen; sondern eine formale Bestimmung, welche nur
in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn und
Bedeutung hat. Wer den Ton c hört, der hört ihn für
sich und durch sich selbst, nicht aber als entgegengesetz-
tes von d. Desgleichen, wer den Ton d hört, der hört
den einfachen Klang d ohne Gegensatz gegen c. Aber
wer die Töne c und d beyde hört, oder beyder Vorstel-
lungen zugleich im Bewuſstseyn hat, der vernimmt nicht
bloſs die Summe c und d, sondern auch überdem den
Contrast beyder, und sein Vorstellen ist der Wirkung
des Gegensatzes beyder unterworfen. Eben so, wer sich
in das Anschaun des ungetrübten Himmels versenkt, der
sieht reines Blau ohne Gegensatz, und diese Vorstellung
ist für sich vollständig; aber dasselbe reine Blau ist fä-
hig in unendlich viele Contraste einzugehn, gegen andre
und andre Farben. Wollte man diese Contraste, und
die dazu gehörigen hemmenden Kräfte der Vorstellungen,
für inwohnende Bestimmungen derselben Vorstellungen
halten, so wäre keine Vorstellung etwas für sich; es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0173" n="153"/>
hiedurch aber vollständig, bestimmt als eine solche und<lb/>
keine andre. So gewi&#x017F;s sie nun dieses Object wirklich<lb/>
vorstellt, eben so gewi&#x017F;s ist sie keinesweges ein <hi rendition="#g">Stre-<lb/>
ben</hi> vorzustellen; denn die Eigenschaft des Strebens geht<lb/>
erst hervor in der Hemmung durch ein hinzukommendes<lb/>
entgegengesetztes. Es ist auch in ihr gar keine Activi-<lb/>
tät, die auf etwas Fremdes, und gleichsam Aeu&#x017F;seres<lb/>
gerichtet wäre; denn ihrem Begriffe nach besteht eine<lb/>
Vorstellung nur im Erzeugen und Vesthalten ihres vor-<lb/>
gestellten Bildes; darin erschöpft sie sich, und au&#x017F;serdem<lb/>
ist in ihr nichts zu finden. &#x2014; Erst indem sie in einem<lb/>
und demselben Subject mit einer andern ihr entgegenste-<lb/>
henden Vorstellung zusammentrifft, kommt ihr die Acti-<lb/>
vität, wodurch sie über sich selbst hinausgeht. Sie drängt<lb/>
die andre, weil sie von der andern gedrängt wird; beyde<lb/>
aber drängen einander vermöge des unter ihnen entste-<lb/>
henden Gegensatzes. Dieser Gegensatz ist wiederum kein<lb/>
Prädicat weder der einen noch der andern, einzeln ge-<lb/>
nommen; sondern eine formale Bestimmung, welche nur<lb/>
in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn und<lb/>
Bedeutung hat. Wer den Ton <hi rendition="#i">c</hi> hört, der hört ihn für<lb/>
sich und durch sich selbst, nicht aber als entgegengesetz-<lb/>
tes von <hi rendition="#i">d</hi>. Desgleichen, wer den Ton <hi rendition="#i">d</hi> hört, der hört<lb/>
den einfachen Klang <hi rendition="#i">d</hi> ohne Gegensatz gegen <hi rendition="#i">c</hi>. Aber<lb/>
wer die Töne <hi rendition="#i">c</hi> und <hi rendition="#i">d</hi> beyde hört, oder beyder Vorstel-<lb/>
lungen zugleich im Bewu&#x017F;stseyn hat, der vernimmt nicht<lb/>
blo&#x017F;s die Summe <hi rendition="#i">c</hi> und <hi rendition="#i">d</hi>, sondern auch überdem den<lb/>
Contrast beyder, und sein Vorstellen ist der Wirkung<lb/>
des Gegensatzes beyder unterworfen. Eben so, wer sich<lb/>
in das Anschaun des ungetrübten Himmels versenkt, der<lb/>
sieht reines Blau ohne Gegensatz, und diese Vorstellung<lb/>
ist für sich vollständig; aber dasselbe reine Blau ist fä-<lb/>
hig in unendlich viele Contraste einzugehn, gegen andre<lb/>
und andre Farben. Wollte man diese Contraste, und<lb/>
die dazu gehörigen hemmenden Kräfte der Vorstellungen,<lb/>
für inwohnende Bestimmungen derselben Vorstellungen<lb/>
halten, so wäre keine Vorstellung etwas für sich; es<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0173] hiedurch aber vollständig, bestimmt als eine solche und keine andre. So gewiſs sie nun dieses Object wirklich vorstellt, eben so gewiſs ist sie keinesweges ein Stre- ben vorzustellen; denn die Eigenschaft des Strebens geht erst hervor in der Hemmung durch ein hinzukommendes entgegengesetztes. Es ist auch in ihr gar keine Activi- tät, die auf etwas Fremdes, und gleichsam Aeuſseres gerichtet wäre; denn ihrem Begriffe nach besteht eine Vorstellung nur im Erzeugen und Vesthalten ihres vor- gestellten Bildes; darin erschöpft sie sich, und auſserdem ist in ihr nichts zu finden. — Erst indem sie in einem und demselben Subject mit einer andern ihr entgegenste- henden Vorstellung zusammentrifft, kommt ihr die Acti- vität, wodurch sie über sich selbst hinausgeht. Sie drängt die andre, weil sie von der andern gedrängt wird; beyde aber drängen einander vermöge des unter ihnen entste- henden Gegensatzes. Dieser Gegensatz ist wiederum kein Prädicat weder der einen noch der andern, einzeln ge- nommen; sondern eine formale Bestimmung, welche nur in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn und Bedeutung hat. Wer den Ton c hört, der hört ihn für sich und durch sich selbst, nicht aber als entgegengesetz- tes von d. Desgleichen, wer den Ton d hört, der hört den einfachen Klang d ohne Gegensatz gegen c. Aber wer die Töne c und d beyde hört, oder beyder Vorstel- lungen zugleich im Bewuſstseyn hat, der vernimmt nicht bloſs die Summe c und d, sondern auch überdem den Contrast beyder, und sein Vorstellen ist der Wirkung des Gegensatzes beyder unterworfen. Eben so, wer sich in das Anschaun des ungetrübten Himmels versenkt, der sieht reines Blau ohne Gegensatz, und diese Vorstellung ist für sich vollständig; aber dasselbe reine Blau ist fä- hig in unendlich viele Contraste einzugehn, gegen andre und andre Farben. Wollte man diese Contraste, und die dazu gehörigen hemmenden Kräfte der Vorstellungen, für inwohnende Bestimmungen derselben Vorstellungen halten, so wäre keine Vorstellung etwas für sich; es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/173
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/173>, abgerufen am 05.05.2024.