Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

mung unseres Gemüthszustandes etwas beyträgt, als bis
es uns wieder einfällt? Was kann unsre lebhaftesten
Ueberzeugungen, unsre besten Vorsätze, unsre ausgebil-
deten Gefühle, manchmal auf lange Zeiten, verhindern
wirksam zu werden; was kann ihnen die unglückliche
Trägheit beybringen, durch die sie uns der vergeblichen
Reue so oft Preis geben? -- Andre Gedanken haben
uns zu lebhaft beschäfftigt! Dies wissen wir schon aus
der Erfahrung. Und dennoch hat man sich lieber bis in
die, alle gesunde Metaphysik zerstörenden, Irrlehren, von
der transscendentalen Freyheit, und vom radicalen Bösen,
verlieren, als den psychologischen Mechanismus, an wel-
chem offenbar die Schuld liegen muss, genauer untersu-
chen wollen. --

Der eben aufgestellte Lehrsatz ist der erste, obgleich
noch sehr beschränkte, Anfang der Einsicht in diesen
Mechanismus. Zwey Vorstellungen reichen hin, um eine
dritte aus dem Bewusstseyn völlig zu verdrängen, und
einen von ihr ganz unabhängigen Gemüthszustand her-
beyzuführen. Eine allein vermag dies nicht gegen die
zweyte; wie wir oben sahen, indem wir bemerkten, dass
der Rest von b niemals = o werden kann. Was aber
zwey gegen die dritte vermögen, das leisten sie auch ge-
gen eine wie immer grosse Anzahl von noch schwächern
Vorstellungen. Fernere Untersuchungen werden lehren,
dass ganz ähnliche psychologische Ereignisse auch unter
gewissen Umständen Statt haben können, ohne dass die
aus dem Bewusstseyn verdrängten Vorstellungen gerade
schwächer zu seyn brauchen, als die verdrängenden.

Indessen wollen wir schon hier das Allgemeine die-
ser Ereignisse mit einem Kunstworte bezeichnen, dessen
Gebrauch in der Folge noch oftmals nöthig seyn wird.
So wie man gewohnt ist, vom Eintritt der Vorstellungen
ins Bewusstseyn zu reden, so nenne ich Schwelle des
Bewusstseyns
diejenige Gränze, welche eine Vorstel-
lung scheint zu überschreiten, indem sie aus dem völlig
gehemmten Zustande zu einem Grade des wirklichen Vor-

mung unseres Gemüthszustandes etwas beyträgt, als bis
es uns wieder einfällt? Was kann unsre lebhaftesten
Ueberzeugungen, unsre besten Vorsätze, unsre ausgebil-
deten Gefühle, manchmal auf lange Zeiten, verhindern
wirksam zu werden; was kann ihnen die unglückliche
Trägheit beybringen, durch die sie uns der vergeblichen
Reue so oft Preis geben? — Andre Gedanken haben
uns zu lebhaft beschäfftigt! Dies wissen wir schon aus
der Erfahrung. Und dennoch hat man sich lieber bis in
die, alle gesunde Metaphysik zerstörenden, Irrlehren, von
der transscendentalen Freyheit, und vom radicalen Bösen,
verlieren, als den psychologischen Mechanismus, an wel-
chem offenbar die Schuld liegen muſs, genauer untersu-
chen wollen. —

Der eben aufgestellte Lehrsatz ist der erste, obgleich
noch sehr beschränkte, Anfang der Einsicht in diesen
Mechanismus. Zwey Vorstellungen reichen hin, um eine
dritte aus dem Bewuſstseyn völlig zu verdrängen, und
einen von ihr ganz unabhängigen Gemüthszustand her-
beyzuführen. Eine allein vermag dies nicht gegen die
zweyte; wie wir oben sahen, indem wir bemerkten, daſs
der Rest von b niemals = o werden kann. Was aber
zwey gegen die dritte vermögen, das leisten sie auch ge-
gen eine wie immer groſse Anzahl von noch schwächern
Vorstellungen. Fernere Untersuchungen werden lehren,
daſs ganz ähnliche psychologische Ereignisse auch unter
gewissen Umständen Statt haben können, ohne daſs die
aus dem Bewuſstseyn verdrängten Vorstellungen gerade
schwächer zu seyn brauchen, als die verdrängenden.

Indessen wollen wir schon hier das Allgemeine die-
ser Ereignisse mit einem Kunstworte bezeichnen, dessen
Gebrauch in der Folge noch oftmals nöthig seyn wird.
So wie man gewohnt ist, vom Eintritt der Vorstellungen
ins Bewuſstseyn zu reden, so nenne ich Schwelle des
Bewuſstseyns
diejenige Gränze, welche eine Vorstel-
lung scheint zu überschreiten, indem sie aus dem völlig
gehemmten Zustande zu einem Grade des wirklichen Vor-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0195" n="175"/>
mung unseres Gemüthszustandes etwas beyträgt, als bis<lb/>
es uns wieder einfällt? Was kann unsre lebhaftesten<lb/>
Ueberzeugungen, unsre besten Vorsätze, unsre ausgebil-<lb/>
deten Gefühle, manchmal auf lange Zeiten, verhindern<lb/>
wirksam zu werden; was kann ihnen die unglückliche<lb/>
Trägheit beybringen, durch die sie uns der vergeblichen<lb/>
Reue so oft Preis geben? &#x2014; <hi rendition="#g">Andre Gedanken</hi> haben<lb/>
uns zu lebhaft beschäfftigt! Dies wissen wir schon aus<lb/>
der Erfahrung. Und dennoch hat man sich lieber bis in<lb/>
die, alle gesunde Metaphysik zerstörenden, Irrlehren, von<lb/>
der transscendentalen Freyheit, und vom radicalen Bösen,<lb/>
verlieren, als den psychologischen Mechanismus, an wel-<lb/>
chem offenbar die Schuld liegen mu&#x017F;s, genauer untersu-<lb/>
chen wollen. &#x2014;</p><lb/>
              <p>Der eben aufgestellte Lehrsatz ist der erste, obgleich<lb/>
noch sehr beschränkte, Anfang der Einsicht in diesen<lb/>
Mechanismus. <hi rendition="#g">Zwey</hi> Vorstellungen reichen hin, um eine<lb/><hi rendition="#g">dritte</hi> aus dem Bewu&#x017F;stseyn völlig zu verdrängen, und<lb/>
einen von ihr ganz unabhängigen Gemüthszustand her-<lb/>
beyzuführen. <hi rendition="#g">Eine</hi> allein vermag dies nicht gegen die<lb/><hi rendition="#g">zweyte</hi>; wie wir oben sahen, indem wir bemerkten, da&#x017F;s<lb/>
der Rest von <hi rendition="#i">b</hi> niemals = <hi rendition="#i">o</hi> werden kann. Was aber<lb/>
zwey gegen die dritte vermögen, das leisten sie auch ge-<lb/>
gen eine wie immer gro&#x017F;se Anzahl von noch schwächern<lb/>
Vorstellungen. Fernere Untersuchungen werden lehren,<lb/>
da&#x017F;s ganz ähnliche psychologische Ereignisse auch unter<lb/>
gewissen Umständen Statt haben können, ohne da&#x017F;s die<lb/>
aus dem Bewu&#x017F;stseyn verdrängten Vorstellungen gerade<lb/>
schwächer zu seyn brauchen, als die verdrängenden.</p><lb/>
              <p>Indessen wollen wir schon hier das Allgemeine die-<lb/>
ser Ereignisse mit einem Kunstworte bezeichnen, dessen<lb/>
Gebrauch in der Folge noch oftmals nöthig seyn wird.<lb/>
So wie man gewohnt ist, vom Eintritt der Vorstellungen<lb/>
ins Bewu&#x017F;stseyn zu reden, so nenne ich <hi rendition="#g">Schwelle des<lb/>
Bewu&#x017F;stseyns</hi> diejenige Gränze, welche eine Vorstel-<lb/>
lung scheint zu überschreiten, indem sie aus dem völlig<lb/>
gehemmten Zustande zu einem Grade des wirklichen Vor-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[175/0195] mung unseres Gemüthszustandes etwas beyträgt, als bis es uns wieder einfällt? Was kann unsre lebhaftesten Ueberzeugungen, unsre besten Vorsätze, unsre ausgebil- deten Gefühle, manchmal auf lange Zeiten, verhindern wirksam zu werden; was kann ihnen die unglückliche Trägheit beybringen, durch die sie uns der vergeblichen Reue so oft Preis geben? — Andre Gedanken haben uns zu lebhaft beschäfftigt! Dies wissen wir schon aus der Erfahrung. Und dennoch hat man sich lieber bis in die, alle gesunde Metaphysik zerstörenden, Irrlehren, von der transscendentalen Freyheit, und vom radicalen Bösen, verlieren, als den psychologischen Mechanismus, an wel- chem offenbar die Schuld liegen muſs, genauer untersu- chen wollen. — Der eben aufgestellte Lehrsatz ist der erste, obgleich noch sehr beschränkte, Anfang der Einsicht in diesen Mechanismus. Zwey Vorstellungen reichen hin, um eine dritte aus dem Bewuſstseyn völlig zu verdrängen, und einen von ihr ganz unabhängigen Gemüthszustand her- beyzuführen. Eine allein vermag dies nicht gegen die zweyte; wie wir oben sahen, indem wir bemerkten, daſs der Rest von b niemals = o werden kann. Was aber zwey gegen die dritte vermögen, das leisten sie auch ge- gen eine wie immer groſse Anzahl von noch schwächern Vorstellungen. Fernere Untersuchungen werden lehren, daſs ganz ähnliche psychologische Ereignisse auch unter gewissen Umständen Statt haben können, ohne daſs die aus dem Bewuſstseyn verdrängten Vorstellungen gerade schwächer zu seyn brauchen, als die verdrängenden. Indessen wollen wir schon hier das Allgemeine die- ser Ereignisse mit einem Kunstworte bezeichnen, dessen Gebrauch in der Folge noch oftmals nöthig seyn wird. So wie man gewohnt ist, vom Eintritt der Vorstellungen ins Bewuſstseyn zu reden, so nenne ich Schwelle des Bewuſstseyns diejenige Gränze, welche eine Vorstel- lung scheint zu überschreiten, indem sie aus dem völlig gehemmten Zustande zu einem Grade des wirklichen Vor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/195
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/195>, abgerufen am 27.04.2024.