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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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nen so grossen und unläugbaren Einfluss hat. Bekannt-
lich ist das Temperament nicht bloss bey einzelnen
Thieren, sondern noch weit auffallender bey den Thier-
gattungen
verschieden. Das phlegmatische Rind, der
sanguinische Sing-Vogel, der cholerische Hund, -- und
soll ich sagen, die melancholische Eule? -- sind stark
von der Natur gezeichnet; und wir können uns nicht
weigern anzuerkennen, dass der Organismus seinen mäch-
tigen Einfluss auf Gemüthsbewegungen hiedurch sehr deut-
lich documentirt. Die Folgen solcher Verschiedenheiten
greifen ins Leben tief genug ein. Wenn wir aus einem
Hause ins andre ziehn, so geht der Hund willig mit
uns, und lässt sichs beym neuen Ofen eben so wohl seyn
als beym alten, sobald er nur die Erlaubniss hat, in Ge-
sellschaft seines Herrn zu leben; -- aber die Katze will
uns nicht folgen; sie bleibt in der alten Wohnung, ge-
treu dem Heerde und den Schlupfwinkeln, die sie kennt,
anhänglich mehr für das Todte als für das Lebendige.
Warum? Ohne Zweifel hat die Katze niemals ganz den
ersten Affect überwunden, den der Mensch ihr bey
der ersten Annäherung einflösste; und das war die Furcht.
Beym Hunde hingegen ist es der Zorn, der seiner Natur
nach schneller vorübergeht. Daher bleibt der Hund stets
unvorsichtig; die Katze aber hütet sich; sie ist schlau, weil
sie sich fürchtet. Wir wollen die Physiologen nicht fra-
gen, welches von den beyden Thieren hierin Recht oder
Unrecht habe? Sie würden sonst ohne Zweifel die Katze
loben müssen, die, viel klüger als der Hund, sich gewis-
sen grausamen Experimenten entzieht, so lange sie kann.
Sollte aber wohl die vergleichende Anatomie jemals da
hin kommen, uns über den Grund, weshalb das Tempe-
rament und der erste natürliche Affect bey Verschiedenen
verschieden sind, Aufschluss zu geben? Wenn die Phy-
siologen es dahin bringen, so werden sie uns etwas von
dem lehren, was wir zu wissen verlangen; während sie
bisher (z. B. in der Angabe des Sitzes verschiedener
Seelenvermögen,) freygebig gewesen sind mit Antworten,

nen so groſsen und unläugbaren Einfluſs hat. Bekannt-
lich ist das Temperament nicht bloſs bey einzelnen
Thieren, sondern noch weit auffallender bey den Thier-
gattungen
verschieden. Das phlegmatische Rind, der
sanguinische Sing-Vogel, der cholerische Hund, — und
soll ich sagen, die melancholische Eule? — sind stark
von der Natur gezeichnet; und wir können uns nicht
weigern anzuerkennen, daſs der Organismus seinen mäch-
tigen Einfluſs auf Gemüthsbewegungen hiedurch sehr deut-
lich documentirt. Die Folgen solcher Verschiedenheiten
greifen ins Leben tief genug ein. Wenn wir aus einem
Hause ins andre ziehn, so geht der Hund willig mit
uns, und läſst sichs beym neuen Ofen eben so wohl seyn
als beym alten, sobald er nur die Erlaubniſs hat, in Ge-
sellschaft seines Herrn zu leben; — aber die Katze will
uns nicht folgen; sie bleibt in der alten Wohnung, ge-
treu dem Heerde und den Schlupfwinkeln, die sie kennt,
anhänglich mehr für das Todte als für das Lebendige.
Warum? Ohne Zweifel hat die Katze niemals ganz den
ersten Affect überwunden, den der Mensch ihr bey
der ersten Annäherung einflöſste; und das war die Furcht.
Beym Hunde hingegen ist es der Zorn, der seiner Natur
nach schneller vorübergeht. Daher bleibt der Hund stets
unvorsichtig; die Katze aber hütet sich; sie ist schlau, weil
sie sich fürchtet. Wir wollen die Physiologen nicht fra-
gen, welches von den beyden Thieren hierin Recht oder
Unrecht habe? Sie würden sonst ohne Zweifel die Katze
loben müssen, die, viel klüger als der Hund, sich gewis-
sen grausamen Experimenten entzieht, so lange sie kann.
Sollte aber wohl die vergleichende Anatomie jemals da
hin kommen, uns über den Grund, weshalb das Tempe-
rament und der erste natürliche Affect bey Verschiedenen
verschieden sind, Aufschluſs zu geben? Wenn die Phy-
siologen es dahin bringen, so werden sie uns etwas von
dem lehren, was wir zu wissen verlangen; während sie
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[118/0153] nen so groſsen und unläugbaren Einfluſs hat. Bekannt- lich ist das Temperament nicht bloſs bey einzelnen Thieren, sondern noch weit auffallender bey den Thier- gattungen verschieden. Das phlegmatische Rind, der sanguinische Sing-Vogel, der cholerische Hund, — und soll ich sagen, die melancholische Eule? — sind stark von der Natur gezeichnet; und wir können uns nicht weigern anzuerkennen, daſs der Organismus seinen mäch- tigen Einfluſs auf Gemüthsbewegungen hiedurch sehr deut- lich documentirt. Die Folgen solcher Verschiedenheiten greifen ins Leben tief genug ein. Wenn wir aus einem Hause ins andre ziehn, so geht der Hund willig mit uns, und läſst sichs beym neuen Ofen eben so wohl seyn als beym alten, sobald er nur die Erlaubniſs hat, in Ge- sellschaft seines Herrn zu leben; — aber die Katze will uns nicht folgen; sie bleibt in der alten Wohnung, ge- treu dem Heerde und den Schlupfwinkeln, die sie kennt, anhänglich mehr für das Todte als für das Lebendige. Warum? Ohne Zweifel hat die Katze niemals ganz den ersten Affect überwunden, den der Mensch ihr bey der ersten Annäherung einflöſste; und das war die Furcht. Beym Hunde hingegen ist es der Zorn, der seiner Natur nach schneller vorübergeht. Daher bleibt der Hund stets unvorsichtig; die Katze aber hütet sich; sie ist schlau, weil sie sich fürchtet. Wir wollen die Physiologen nicht fra- gen, welches von den beyden Thieren hierin Recht oder Unrecht habe? Sie würden sonst ohne Zweifel die Katze loben müssen, die, viel klüger als der Hund, sich gewis- sen grausamen Experimenten entzieht, so lange sie kann. Sollte aber wohl die vergleichende Anatomie jemals da hin kommen, uns über den Grund, weshalb das Tempe- rament und der erste natürliche Affect bey Verschiedenen verschieden sind, Aufschluſs zu geben? Wenn die Phy- siologen es dahin bringen, so werden sie uns etwas von dem lehren, was wir zu wissen verlangen; während sie bisher (z. B. in der Angabe des Sitzes verschiedener Seelenvermögen,) freygebig gewesen sind mit Antworten,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/153>, abgerufen am 28.04.2024.