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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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der Mitte der Figur gegen die Gränze hin: so bewegt sich
das ganze Gesichtsfeld, als eine ungetheilte Einheit; da-
her können selbst Puncte die Fortschreitung aufhalten.

Was die Färbung anlangt: so dürfte man beynahe
den Satz aufstellen, dass entweder der Gegenstand, oder
der Hintergrund, schlicht seyn müssen, damit die Figur
zusammengefasst werde. Sind beyde bunt: so giebt es
keine zulängliche Bevestigung der Gränzen, an welche
anstossend, der Blick zurückkehren sollte. Dies wird am
stärksten dann empfunden, wenn viele krumme Linien
sich in einander einwickeln. Wer kennt nicht das Ge-
schlinge der Himmelskarten, und die Beschwerde, die
man überwinden muss, um die Figuren aus dem allge-
meinen Gewirre herauszusondern?

Die Beschäfftigung des Auges innerhalb der Figur
setzt voraus, dass Figur in Figur, eine Zeichnung in
der andern, enthalten sey; wodurch der Blick selbst in-
nerhalb des Umrisses vielfältig aufgehalten, zurückgewor-
fen, umhergeführt wird; wie es bey den allermeisten sinn-
lichen Gegenständen der Fall ist, über die man nicht so
leicht hinwegkommt, wie über eine einfache geometrische
Zeichnung. Die Wirkung der in einander eingeschalte-
ten Figuren ist im Allgemeinen eine verstärkte Auffas-
sung durch die Verweilung; während über eine ganz ein-
farbige Fläche das Auge sehr schnell hinweggleitet; da
es mit schon erschöpfter Empfänglichkeit noch immer
dasselbe sieht: die nähern Bestimmungen dieser Wir-
kung können sehr mannigfaltig seyn. Es kommt alles
darauf an, wie die verschiedenen Reproductionsgesetze,
welche aus den einzelnen Zügen der Zeichnung entstehn,
zusammen passen. Je nachdem sie einander im Ablau-
fen der Reihen begünstigen oder widerstehen, ist der
Gegenstand schön oder hässlich. Ein leichtes Bey-
spiel der Begünstigung geben die vielen Parallelen in
Werken der Architectur, die durch ein einziges schief
liegendes Parallelogramm könnten entstellt werden, wie
etwa durch ein schiefes Fenster, u. d. gl.

der Mitte der Figur gegen die Gränze hin: so bewegt sich
das ganze Gesichtsfeld, als eine ungetheilte Einheit; da-
her können selbst Puncte die Fortschreitung aufhalten.

Was die Färbung anlangt: so dürfte man beynahe
den Satz aufstellen, daſs entweder der Gegenstand, oder
der Hintergrund, schlicht seyn müssen, damit die Figur
zusammengefaſst werde. Sind beyde bunt: so giebt es
keine zulängliche Bevestigung der Gränzen, an welche
anstoſsend, der Blick zurückkehren sollte. Dies wird am
stärksten dann empfunden, wenn viele krumme Linien
sich in einander einwickeln. Wer kennt nicht das Ge-
schlinge der Himmelskarten, und die Beschwerde, die
man überwinden muſs, um die Figuren aus dem allge-
meinen Gewirre herauszusondern?

Die Beschäfftigung des Auges innerhalb der Figur
setzt voraus, daſs Figur in Figur, eine Zeichnung in
der andern, enthalten sey; wodurch der Blick selbst in-
nerhalb des Umrisses vielfältig aufgehalten, zurückgewor-
fen, umhergeführt wird; wie es bey den allermeisten sinn-
lichen Gegenständen der Fall ist, über die man nicht so
leicht hinwegkommt, wie über eine einfache geometrische
Zeichnung. Die Wirkung der in einander eingeschalte-
ten Figuren ist im Allgemeinen eine verstärkte Auffas-
sung durch die Verweilung; während über eine ganz ein-
farbige Fläche das Auge sehr schnell hinweggleitet; da
es mit schon erschöpfter Empfänglichkeit noch immer
dasselbe sieht: die nähern Bestimmungen dieser Wir-
kung können sehr mannigfaltig seyn. Es kommt alles
darauf an, wie die verschiedenen Reproductionsgesetze,
welche aus den einzelnen Zügen der Zeichnung entstehn,
zusammen passen. Je nachdem sie einander im Ablau-
fen der Reihen begünstigen oder widerstehen, ist der
Gegenstand schön oder häſslich. Ein leichtes Bey-
spiel der Begünstigung geben die vielen Parallelen in
Werken der Architectur, die durch ein einziges schief
liegendes Parallelogramm könnten entstellt werden, wie
etwa durch ein schiefes Fenster, u. d. gl.

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[142/0177] der Mitte der Figur gegen die Gränze hin: so bewegt sich das ganze Gesichtsfeld, als eine ungetheilte Einheit; da- her können selbst Puncte die Fortschreitung aufhalten. Was die Färbung anlangt: so dürfte man beynahe den Satz aufstellen, daſs entweder der Gegenstand, oder der Hintergrund, schlicht seyn müssen, damit die Figur zusammengefaſst werde. Sind beyde bunt: so giebt es keine zulängliche Bevestigung der Gränzen, an welche anstoſsend, der Blick zurückkehren sollte. Dies wird am stärksten dann empfunden, wenn viele krumme Linien sich in einander einwickeln. Wer kennt nicht das Ge- schlinge der Himmelskarten, und die Beschwerde, die man überwinden muſs, um die Figuren aus dem allge- meinen Gewirre herauszusondern? Die Beschäfftigung des Auges innerhalb der Figur setzt voraus, daſs Figur in Figur, eine Zeichnung in der andern, enthalten sey; wodurch der Blick selbst in- nerhalb des Umrisses vielfältig aufgehalten, zurückgewor- fen, umhergeführt wird; wie es bey den allermeisten sinn- lichen Gegenständen der Fall ist, über die man nicht so leicht hinwegkommt, wie über eine einfache geometrische Zeichnung. Die Wirkung der in einander eingeschalte- ten Figuren ist im Allgemeinen eine verstärkte Auffas- sung durch die Verweilung; während über eine ganz ein- farbige Fläche das Auge sehr schnell hinweggleitet; da es mit schon erschöpfter Empfänglichkeit noch immer dasselbe sieht: die nähern Bestimmungen dieser Wir- kung können sehr mannigfaltig seyn. Es kommt alles darauf an, wie die verschiedenen Reproductionsgesetze, welche aus den einzelnen Zügen der Zeichnung entstehn, zusammen passen. Je nachdem sie einander im Ablau- fen der Reihen begünstigen oder widerstehen, ist der Gegenstand schön oder häſslich. Ein leichtes Bey- spiel der Begünstigung geben die vielen Parallelen in Werken der Architectur, die durch ein einziges schief liegendes Parallelogramm könnten entstellt werden, wie etwa durch ein schiefes Fenster, u. d. gl.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/177>, abgerufen am 14.05.2024.