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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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sie gesprochen wurden, der Hemmung anheim, und die
Auffassungen blieben unverschmolzen; sobald hingegen
alte Vorstellungen erwachten, deren starke Verbindung
Reihen hervorzurufen im Begriff war, mit welchen sich
das hinzukommende Neue leicht vereinigte, entstand eine
Totalkraft aus Altem und Neuem, wodurch die zerstreu-
enden Gedanken wenigstens auf die mechanische Schwelle
getrieben wurden. Ich will mich hier nicht bey pädago-
gischen Dingen aufhalten; sonst wäre leicht zu zeigen,
wie nothwendig es für die Kunst des Unterrichts ist, alle
Parthien desselben, -- aber besonders die grössern Um-
risse, -- dergestalt im Voraus anzuordnen, dass die Mög-
lichkeit
des Merkens auf das Nachfolgende aus den
früher gewonnenen Kenntnissen hervor gehe; und dass
diese Möglichkeit, so weit sie vorhanden ist, stets aufs
Vortheilhafteste benutzt werde. (Diejenigen, welche sich
noch heute mit der höchst thörichten Streitigkeit zwi-
schen Humanismus und Philanthropinismus tragen, würden
davon ohnehin nichts verstehn.) Keineswegs bloss für
den Erzieher, sondern in einer viel weitern Sphäre gilt
die Erinnerung: man müsse vor allen Dingen überlegen,
dass Jeder, während er einem Vortrage zuhört, in der-
selben Zeit irgend etwas Anderes denken würde, wofern
der Vortrag nicht wäre; denn dieses Andere bildet die
hemmende Kraft, welche muss überwunden werden, wenn
das Merken möglich seyn soll. Das Umgekehrte zeigt
sich dann, wann wir an den Abschnitt eines interessan-
ten Buches gekommen sind, und uns noch für eine kleine
Weile in dem Eindruck so gefangen fühlen, dass wir zu
eigenen Betrachtungen nicht kommen können. Die hem-
mende Kraft ist hier völlig verschwunden, das anziehende
Buch hat durch lebendige Darstellung (besonders durch
das Poetisch-Anschauliche eines Homer, -- oder eines
Walter Scott,) unsere Gedankenreihen so entfaltet,
so fortgelenkt, wie sie, ihrem innern Triebe nach, sich
zu entwickeln bereit waren; dann ihren Strom, wenn er
stark genug aufgeregt war, durch Hindernisse verdichtet,

sie gesprochen wurden, der Hemmung anheim, und die
Auffassungen blieben unverschmolzen; sobald hingegen
alte Vorstellungen erwachten, deren starke Verbindung
Reihen hervorzurufen im Begriff war, mit welchen sich
das hinzukommende Neue leicht vereinigte, entstand eine
Totalkraft aus Altem und Neuem, wodurch die zerstreu-
enden Gedanken wenigstens auf die mechanische Schwelle
getrieben wurden. Ich will mich hier nicht bey pädago-
gischen Dingen aufhalten; sonst wäre leicht zu zeigen,
wie nothwendig es für die Kunst des Unterrichts ist, alle
Parthien desselben, — aber besonders die gröſsern Um-
risse, — dergestalt im Voraus anzuordnen, daſs die Mög-
lichkeit
des Merkens auf das Nachfolgende aus den
früher gewonnenen Kenntnissen hervor gehe; und daſs
diese Möglichkeit, so weit sie vorhanden ist, stets aufs
Vortheilhafteste benutzt werde. (Diejenigen, welche sich
noch heute mit der höchst thörichten Streitigkeit zwi-
schen Humanismus und Philanthropinismus tragen, würden
davon ohnehin nichts verstehn.) Keineswegs bloſs für
den Erzieher, sondern in einer viel weitern Sphäre gilt
die Erinnerung: man müsse vor allen Dingen überlegen,
daſs Jeder, während er einem Vortrage zuhört, in der-
selben Zeit irgend etwas Anderes denken würde, wofern
der Vortrag nicht wäre; denn dieses Andere bildet die
hemmende Kraft, welche muſs überwunden werden, wenn
das Merken möglich seyn soll. Das Umgekehrte zeigt
sich dann, wann wir an den Abschnitt eines interessan-
ten Buches gekommen sind, und uns noch für eine kleine
Weile in dem Eindruck so gefangen fühlen, daſs wir zu
eigenen Betrachtungen nicht kommen können. Die hem-
mende Kraft ist hier völlig verschwunden, das anziehende
Buch hat durch lebendige Darstellung (besonders durch
das Poëtisch-Anschauliche eines Homer, — oder eines
Walter Scott,) unsere Gedankenreihen so entfaltet,
so fortgelenkt, wie sie, ihrem innern Triebe nach, sich
zu entwickeln bereit waren; dann ihren Strom, wenn er
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[226/0261] sie gesprochen wurden, der Hemmung anheim, und die Auffassungen blieben unverschmolzen; sobald hingegen alte Vorstellungen erwachten, deren starke Verbindung Reihen hervorzurufen im Begriff war, mit welchen sich das hinzukommende Neue leicht vereinigte, entstand eine Totalkraft aus Altem und Neuem, wodurch die zerstreu- enden Gedanken wenigstens auf die mechanische Schwelle getrieben wurden. Ich will mich hier nicht bey pädago- gischen Dingen aufhalten; sonst wäre leicht zu zeigen, wie nothwendig es für die Kunst des Unterrichts ist, alle Parthien desselben, — aber besonders die gröſsern Um- risse, — dergestalt im Voraus anzuordnen, daſs die Mög- lichkeit des Merkens auf das Nachfolgende aus den früher gewonnenen Kenntnissen hervor gehe; und daſs diese Möglichkeit, so weit sie vorhanden ist, stets aufs Vortheilhafteste benutzt werde. (Diejenigen, welche sich noch heute mit der höchst thörichten Streitigkeit zwi- schen Humanismus und Philanthropinismus tragen, würden davon ohnehin nichts verstehn.) Keineswegs bloſs für den Erzieher, sondern in einer viel weitern Sphäre gilt die Erinnerung: man müsse vor allen Dingen überlegen, daſs Jeder, während er einem Vortrage zuhört, in der- selben Zeit irgend etwas Anderes denken würde, wofern der Vortrag nicht wäre; denn dieses Andere bildet die hemmende Kraft, welche muſs überwunden werden, wenn das Merken möglich seyn soll. Das Umgekehrte zeigt sich dann, wann wir an den Abschnitt eines interessan- ten Buches gekommen sind, und uns noch für eine kleine Weile in dem Eindruck so gefangen fühlen, daſs wir zu eigenen Betrachtungen nicht kommen können. Die hem- mende Kraft ist hier völlig verschwunden, das anziehende Buch hat durch lebendige Darstellung (besonders durch das Poëtisch-Anschauliche eines Homer, — oder eines Walter Scott,) unsere Gedankenreihen so entfaltet, so fortgelenkt, wie sie, ihrem innern Triebe nach, sich zu entwickeln bereit waren; dann ihren Strom, wenn er stark genug aufgeregt war, durch Hindernisse verdichtet,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/261>, abgerufen am 28.04.2024.