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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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nun den Weg ein, den man durch die Methode der Be-
ziehungen kennt; das heisst, man entschlage sich des
ungereimten Gedankens; und setze dessen Gegentheil an
die Stelle. Die ersten Mittheilungen also geschehen ent-
weder nicht absichtlich, oder nicht durch willkührliche
Zeichen; sie waren nicht Sprache. Gleichwohl verstand
man einander; und glaubte sich verstanden. Dies errieth
man aus dem zusammenstimmenden Handeln, welches
den gemeinsamen Gedanken gemäss war; es konnte aber
leicht zusammenstimmen, wenn man unter gleichen Um-
ständen gleiche Bedürfnisse hatte. Die Naturlaute, oder
zufälligen Aeusserungen bey Gelegenheit des gemeinsa-
men Handelns, reproducirten sich bey Jedem in wieder-
kehrender Lage; riefen Jedem den nämlichen Gedanken
zurück; und waren mit Erwartung eines ähnlichen ge-
meinsamen Handelns von beyden Seiten ohne weiteres
Fragen und Zweifeln verknüpft. Wie es zugehe, dass
Einer den Andern verstehe; und ob er wohl verstehn
oder misverstehn werde? Das wurde nicht gefragt noch
bedacht; sondern das Handeln war es, worauf, ohne alles
Denken an das Denken des Andern, die Erwartung
und die Aufmerksamkeit sich richtete. Blieb nun aber das
erwartete Handeln des Andern aus, dann legte man mehr An-
strengung in den damit complicirten Laut, auf eine Weise
und aus einem Grunde, worauf im §. 150. mehr Licht
fallen wird. Da fing die Absichtlichkeit des Sprechens
an; die Willkühr in der Ursprache aber ist eine Fiction,
wie die Contracte, worauf die Staaten ursprünglich sol-
len gegründet seyn. Die einmal verstandenen Zeichen
veränderten sich durch Abkürzung, und durch Zusam-
mensetzung; beydes wechselsweise; so dass aus abgekürz-
ter Zusammensetzung die Flexionen und Derivationen
entstanden. Dass späterhin die Sprache sich fortbildete
wie die Werkzeuge, deren roheres stets das bessere
verfertigen hilft, versteht sich von selbst, und bedarf
keiner Erläuterung. Die Willkühr nahm Platz, als die
Sprache schon nicht mehr Ursprache war, so wie die

nun den Weg ein, den man durch die Methode der Be-
ziehungen kennt; das heiſst, man entschlage sich des
ungereimten Gedankens; und setze dessen Gegentheil an
die Stelle. Die ersten Mittheilungen also geschehen ent-
weder nicht absichtlich, oder nicht durch willkührliche
Zeichen; sie waren nicht Sprache. Gleichwohl verstand
man einander; und glaubte sich verstanden. Dies errieth
man aus dem zusammenstimmenden Handeln, welches
den gemeinsamen Gedanken gemäſs war; es konnte aber
leicht zusammenstimmen, wenn man unter gleichen Um-
ständen gleiche Bedürfnisse hatte. Die Naturlaute, oder
zufälligen Aeuſserungen bey Gelegenheit des gemeinsa-
men Handelns, reproducirten sich bey Jedem in wieder-
kehrender Lage; riefen Jedem den nämlichen Gedanken
zurück; und waren mit Erwartung eines ähnlichen ge-
meinsamen Handelns von beyden Seiten ohne weiteres
Fragen und Zweifeln verknüpft. Wie es zugehe, daſs
Einer den Andern verstehe; und ob er wohl verstehn
oder misverstehn werde? Das wurde nicht gefragt noch
bedacht; sondern das Handeln war es, worauf, ohne alles
Denken an das Denken des Andern, die Erwartung
und die Aufmerksamkeit sich richtete. Blieb nun aber das
erwartete Handeln des Andern aus, dann legte man mehr An-
strengung in den damit complicirten Laut, auf eine Weise
und aus einem Grunde, worauf im §. 150. mehr Licht
fallen wird. Da fing die Absichtlichkeit des Sprechens
an; die Willkühr in der Ursprache aber ist eine Fiction,
wie die Contracte, worauf die Staaten ursprünglich sol-
len gegründet seyn. Die einmal verstandenen Zeichen
veränderten sich durch Abkürzung, und durch Zusam-
mensetzung; beydes wechselsweise; so daſs aus abgekürz-
ter Zusammensetzung die Flexionen und Derivationen
entstanden. Daſs späterhin die Sprache sich fortbildete
wie die Werkzeuge, deren roheres stets das bessere
verfertigen hilft, versteht sich von selbst, und bedarf
keiner Erläuterung. Die Willkühr nahm Platz, als die
Sprache schon nicht mehr Ursprache war, so wie die

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[244/0279] nun den Weg ein, den man durch die Methode der Be- ziehungen kennt; das heiſst, man entschlage sich des ungereimten Gedankens; und setze dessen Gegentheil an die Stelle. Die ersten Mittheilungen also geschehen ent- weder nicht absichtlich, oder nicht durch willkührliche Zeichen; sie waren nicht Sprache. Gleichwohl verstand man einander; und glaubte sich verstanden. Dies errieth man aus dem zusammenstimmenden Handeln, welches den gemeinsamen Gedanken gemäſs war; es konnte aber leicht zusammenstimmen, wenn man unter gleichen Um- ständen gleiche Bedürfnisse hatte. Die Naturlaute, oder zufälligen Aeuſserungen bey Gelegenheit des gemeinsa- men Handelns, reproducirten sich bey Jedem in wieder- kehrender Lage; riefen Jedem den nämlichen Gedanken zurück; und waren mit Erwartung eines ähnlichen ge- meinsamen Handelns von beyden Seiten ohne weiteres Fragen und Zweifeln verknüpft. Wie es zugehe, daſs Einer den Andern verstehe; und ob er wohl verstehn oder misverstehn werde? Das wurde nicht gefragt noch bedacht; sondern das Handeln war es, worauf, ohne alles Denken an das Denken des Andern, die Erwartung und die Aufmerksamkeit sich richtete. Blieb nun aber das erwartete Handeln des Andern aus, dann legte man mehr An- strengung in den damit complicirten Laut, auf eine Weise und aus einem Grunde, worauf im §. 150. mehr Licht fallen wird. Da fing die Absichtlichkeit des Sprechens an; die Willkühr in der Ursprache aber ist eine Fiction, wie die Contracte, worauf die Staaten ursprünglich sol- len gegründet seyn. Die einmal verstandenen Zeichen veränderten sich durch Abkürzung, und durch Zusam- mensetzung; beydes wechselsweise; so daſs aus abgekürz- ter Zusammensetzung die Flexionen und Derivationen entstanden. Daſs späterhin die Sprache sich fortbildete wie die Werkzeuge, deren roheres stets das bessere verfertigen hilft, versteht sich von selbst, und bedarf keiner Erläuterung. Die Willkühr nahm Platz, als die Sprache schon nicht mehr Ursprache war, so wie die

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/279>, abgerufen am 08.05.2024.