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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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percipirende Vorstellung ist jedesmal die letzte; die nicht
wieder ein Vorgestelltes wird. Und das Ich, als Gege-
benes, ist ganz und gar ein Vorgestelltes; auch das dem
Object identisch geglaubte Subject ist selbst unvermerkt
Object einer Vorstellungsreihe, die im Bewusstseyn ist,
ohne dass wir uns ihrer bewusst werden; (Vergl. §. 4.
18. 125.)

Man möchte nun auf einen Augenblick bey der Frage
anstehen, ob denn nach Abzug aller dieser Täuschun-
gen von der Ichheit noch etwas übrig bleibe? oder ob
nicht vielmehr dieser Begrift gänzlich müsse verworfen
werden?

Durch Thatsachen des Bewusstseyns lässt sich diese
Frage nicht entscheiden. Dadurch wird der Anfangs-
punct
der Untersuchung vestgestellt, aber nicht das
Resultat; vielmehr, eben indem durch das Gegebene
die Nothwendigkeit der ganzen Untersuchung, und ihre
Gültigkeit in dem Sinne verbürgt ist, dass sie sich mit
keinem Hirngespinnst beschäfftige; nöthigt sie uns auch,
das Resultat gelten zu lassen, selbst dann, wenn es von
dem Anfang weit abweichen sollte. Am wenigsten aber
kann ein Begriff, wie der des Ich, in seinen Merkmalen
durch das Bewusstseyn vestgesetzt werden; nachdem wir
gesehen, dass derselbe während des Laufes der mensch-
lichen Ausbildung einer beständigen Veränderung, einem
Wachsen und Abnehmen unterworfen ist, bis er endlich,
von der Speculation ergriffen, sich in Widersprüche
verliert. (§. 137.)

Dass die Ichheit in völliger speculativer Strenge nicht
bestehen könne, war schon entschieden, als wir diesen
Begriff der Methode der Beziehungen überlieferten, die,
indem sie die Wurzel des Widerspruchs ausreisst, den
Begriff unvermeidlich einer Abänderung, wenn schon der
kleinsten möglichen, unterwirft. (§. 34.) Dieselbe Me-
thode giebt dagegen sogleich einen vorläufigen Umriss
desjenigen Begriffs, in welchen sich der gegebene nach
gesetzmässiger Bearbeitung verwandeln muss. Für das

percipirende Vorstellung ist jedesmal die letzte; die nicht
wieder ein Vorgestelltes wird. Und das Ich, als Gege-
benes, ist ganz und gar ein Vorgestelltes; auch das dem
Object identisch geglaubte Subject ist selbst unvermerkt
Object einer Vorstellungsreihe, die im Bewuſstseyn ist,
ohne daſs wir uns ihrer bewuſst werden; (Vergl. §. 4.
18. 125.)

Man möchte nun auf einen Augenblick bey der Frage
anstehen, ob denn nach Abzug aller dieser Täuschun-
gen von der Ichheit noch etwas übrig bleibe? oder ob
nicht vielmehr dieser Begrift gänzlich müsse verworfen
werden?

Durch Thatsachen des Bewuſstseyns läſst sich diese
Frage nicht entscheiden. Dadurch wird der Anfangs-
punct
der Untersuchung vestgestellt, aber nicht das
Resultat; vielmehr, eben indem durch das Gegebene
die Nothwendigkeit der ganzen Untersuchung, und ihre
Gültigkeit in dem Sinne verbürgt ist, daſs sie sich mit
keinem Hirngespinnst beschäfftige; nöthigt sie uns auch,
das Resultat gelten zu lassen, selbst dann, wenn es von
dem Anfang weit abweichen sollte. Am wenigsten aber
kann ein Begriff, wie der des Ich, in seinen Merkmalen
durch das Bewuſstseyn vestgesetzt werden; nachdem wir
gesehen, daſs derselbe während des Laufes der mensch-
lichen Ausbildung einer beständigen Veränderung, einem
Wachsen und Abnehmen unterworfen ist, bis er endlich,
von der Speculation ergriffen, sich in Widersprüche
verliert. (§. 137.)

Daſs die Ichheit in völliger speculativer Strenge nicht
bestehen könne, war schon entschieden, als wir diesen
Begriff der Methode der Beziehungen überlieferten, die,
indem sie die Wurzel des Widerspruchs ausreiſst, den
Begriff unvermeidlich einer Abänderung, wenn schon der
kleinsten möglichen, unterwirft. (§. 34.) Dieselbe Me-
thode giebt dagegen sogleich einen vorläufigen Umriſs
desjenigen Begriffs, in welchen sich der gegebene nach
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[294/0329] percipirende Vorstellung ist jedesmal die letzte; die nicht wieder ein Vorgestelltes wird. Und das Ich, als Gege- benes, ist ganz und gar ein Vorgestelltes; auch das dem Object identisch geglaubte Subject ist selbst unvermerkt Object einer Vorstellungsreihe, die im Bewuſstseyn ist, ohne daſs wir uns ihrer bewuſst werden; (Vergl. §. 4. 18. 125.) Man möchte nun auf einen Augenblick bey der Frage anstehen, ob denn nach Abzug aller dieser Täuschun- gen von der Ichheit noch etwas übrig bleibe? oder ob nicht vielmehr dieser Begrift gänzlich müsse verworfen werden? Durch Thatsachen des Bewuſstseyns läſst sich diese Frage nicht entscheiden. Dadurch wird der Anfangs- punct der Untersuchung vestgestellt, aber nicht das Resultat; vielmehr, eben indem durch das Gegebene die Nothwendigkeit der ganzen Untersuchung, und ihre Gültigkeit in dem Sinne verbürgt ist, daſs sie sich mit keinem Hirngespinnst beschäfftige; nöthigt sie uns auch, das Resultat gelten zu lassen, selbst dann, wenn es von dem Anfang weit abweichen sollte. Am wenigsten aber kann ein Begriff, wie der des Ich, in seinen Merkmalen durch das Bewuſstseyn vestgesetzt werden; nachdem wir gesehen, daſs derselbe während des Laufes der mensch- lichen Ausbildung einer beständigen Veränderung, einem Wachsen und Abnehmen unterworfen ist, bis er endlich, von der Speculation ergriffen, sich in Widersprüche verliert. (§. 137.) Daſs die Ichheit in völliger speculativer Strenge nicht bestehen könne, war schon entschieden, als wir diesen Begriff der Methode der Beziehungen überlieferten, die, indem sie die Wurzel des Widerspruchs ausreiſst, den Begriff unvermeidlich einer Abänderung, wenn schon der kleinsten möglichen, unterwirft. (§. 34.) Dieselbe Me- thode giebt dagegen sogleich einen vorläufigen Umriſs desjenigen Begriffs, in welchen sich der gegebene nach gesetzmäſsiger Bearbeitung verwandeln muſs. Für das

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/329>, abgerufen am 26.04.2024.