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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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werden; welches beym Einschlafen nicht der Fall war,
indem dort das Uebergewicht der stärksten Vorstellungen,
die sich am spätesten niederdrücken lassen, den bedeu-
tendsten Einfluss hatte. -- Nun vermuthen ohnehin die
Physiologen, dass nicht das ganze Gehirn und Nerven-
system in allen Theilen gleichmässig seine Zustände beym
Einschlafen und Erwachen wechsele*). So haben wir
also auf den ersten Blick den Grund, warum ein Zustand
des wieder beginnenden Vorstellens zu erwarten ist, in
welchem die herrschenden Vorstellungen füglich mangeln
können, in welchem eben deshalb die gewöhnliche Re-
gelmässigkeit des Denkens wird vermisst werden; das
heisst, es zeigt sich im Allgemeinen die Möglichkeit des
Traums.

Aber noch mehr! Im §. 93. haben wir gesehn, dass
selbst die Hemmungsgesetze für erwachende Vorstellun-
gen anders beschaffen sind als die für sinkende. Denn
während des Sinkens stemmen sich die Vorstellungen
mit ganzer Kraft desjenigen Gegensatzes wider einander,
in welchen sie gerathen sind, während sie sich zugleich
im Bewusstseyn befanden; und dieser Widerstreit hleibt
während der ganzen Zeit des Sinkens der nämliche; weil
einmal die Richtung des Strebens dieser Vorstellungen
eine gegenseitige unter ihnen ist. Ganz anders verhält
es sich da, wo mehrere Vorstellungen, ohne wider ein-
ander
sich zu kehren, von einem und demselben ge-
meinschaftlichen Drucke leiden; welches der Fall ist wäh-
rend der Oberherrschaft des Leibes, der die ganze Seele
ohne Unterschied nöthigt zu schlafen. Wenn ein sol-
cher Druck anfängt nachzulassen, so, dass verschiedenen
Vorstellungsmassen zugleich Freyheit gegeben wird ins
Bewusstseyn wieder zu kehren: so sind Anfangs die Hem-
mungen unter diesen Massen unbedeutend; und sie können
daher ein solches Verhältniss ihres ersten Aufwachens an-
nehmen, welches beym vollständigen Wachen nicht würde
bestehen können.

*) Man sehe unter andern Reil a. a. O. S. 89.

werden; welches beym Einschlafen nicht der Fall war,
indem dort das Uebergewicht der stärksten Vorstellungen,
die sich am spätesten niederdrücken lassen, den bedeu-
tendsten Einfluſs hatte. — Nun vermuthen ohnehin die
Physiologen, daſs nicht das ganze Gehirn und Nerven-
system in allen Theilen gleichmäſsig seine Zustände beym
Einschlafen und Erwachen wechsele*). So haben wir
also auf den ersten Blick den Grund, warum ein Zustand
des wieder beginnenden Vorstellens zu erwarten ist, in
welchem die herrschenden Vorstellungen füglich mangeln
können, in welchem eben deshalb die gewöhnliche Re-
gelmäſsigkeit des Denkens wird vermiſst werden; das
heiſst, es zeigt sich im Allgemeinen die Möglichkeit des
Traums.

Aber noch mehr! Im §. 93. haben wir gesehn, daſs
selbst die Hemmungsgesetze für erwachende Vorstellun-
gen anders beschaffen sind als die für sinkende. Denn
während des Sinkens stemmen sich die Vorstellungen
mit ganzer Kraft desjenigen Gegensatzes wider einander,
in welchen sie gerathen sind, während sie sich zugleich
im Bewuſstseyn befanden; und dieser Widerstreit hleibt
während der ganzen Zeit des Sinkens der nämliche; weil
einmal die Richtung des Strebens dieser Vorstellungen
eine gegenseitige unter ihnen ist. Ganz anders verhält
es sich da, wo mehrere Vorstellungen, ohne wider ein-
ander
sich zu kehren, von einem und demselben ge-
meinschaftlichen Drucke leiden; welches der Fall ist wäh-
rend der Oberherrschaft des Leibes, der die ganze Seele
ohne Unterschied nöthigt zu schlafen. Wenn ein sol-
cher Druck anfängt nachzulassen, so, daſs verschiedenen
Vorstellungsmassen zugleich Freyheit gegeben wird ins
Bewuſstseyn wieder zu kehren: so sind Anfangs die Hem-
mungen unter diesen Massen unbedeutend; und sie können
daher ein solches Verhältniſs ihres ersten Aufwachens an-
nehmen, welches beym vollständigen Wachen nicht würde
bestehen können.

*) Man sehe unter andern Reil a. a. O. S. 89.
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[495/0530] werden; welches beym Einschlafen nicht der Fall war, indem dort das Uebergewicht der stärksten Vorstellungen, die sich am spätesten niederdrücken lassen, den bedeu- tendsten Einfluſs hatte. — Nun vermuthen ohnehin die Physiologen, daſs nicht das ganze Gehirn und Nerven- system in allen Theilen gleichmäſsig seine Zustände beym Einschlafen und Erwachen wechsele *). So haben wir also auf den ersten Blick den Grund, warum ein Zustand des wieder beginnenden Vorstellens zu erwarten ist, in welchem die herrschenden Vorstellungen füglich mangeln können, in welchem eben deshalb die gewöhnliche Re- gelmäſsigkeit des Denkens wird vermiſst werden; das heiſst, es zeigt sich im Allgemeinen die Möglichkeit des Traums. Aber noch mehr! Im §. 93. haben wir gesehn, daſs selbst die Hemmungsgesetze für erwachende Vorstellun- gen anders beschaffen sind als die für sinkende. Denn während des Sinkens stemmen sich die Vorstellungen mit ganzer Kraft desjenigen Gegensatzes wider einander, in welchen sie gerathen sind, während sie sich zugleich im Bewuſstseyn befanden; und dieser Widerstreit hleibt während der ganzen Zeit des Sinkens der nämliche; weil einmal die Richtung des Strebens dieser Vorstellungen eine gegenseitige unter ihnen ist. Ganz anders verhält es sich da, wo mehrere Vorstellungen, ohne wider ein- ander sich zu kehren, von einem und demselben ge- meinschaftlichen Drucke leiden; welches der Fall ist wäh- rend der Oberherrschaft des Leibes, der die ganze Seele ohne Unterschied nöthigt zu schlafen. Wenn ein sol- cher Druck anfängt nachzulassen, so, daſs verschiedenen Vorstellungsmassen zugleich Freyheit gegeben wird ins Bewuſstseyn wieder zu kehren: so sind Anfangs die Hem- mungen unter diesen Massen unbedeutend; und sie können daher ein solches Verhältniſs ihres ersten Aufwachens an- nehmen, welches beym vollständigen Wachen nicht würde bestehen können. *) Man sehe unter andern Reil a. a. O. S. 89.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/530>, abgerufen am 27.04.2024.