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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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die letzte seyn müsse, für welche das Uebrige zum Ob-
ject wird, ohne dass sie selbst das Object einer höheren
wäre. Warum denn sollte das nicht diejenige seyn, in
welcher die Beschämung ihren Sitz hatte, womit die
Träumenden sich für übertroffen hielten? -- Dass sie es
im Wachen nicht seyn könne, folgt sehr natürlich aus
dem Gegensatze der äusseren Welt und der inneren, den
uns die Sinne unaufhörlich vergegenwärtigen, und durch
welchen sie uns zwingen, alle unsre Vorstellungen, die
zur Aussenwelt nicht passen, in das Innere, in Uns selbst
hinein zu verlegen. Ist einmal die ganze Scene für einen
Traum erkannt, so muss freylich zugestanden werden,
man habe selbst alle Rollen gespielt. Wiewohl es dem
Aberglauben auch hier nicht an der Ausrede fehlen würde,
irgend ein Dämon habe im rechten Augenblicke mit ein-
gesprochen, und die wirklich fehlende Kenntniss sup-
plirt. -- Es ist in der That nur ein Schluss, vermittelst
dessen wir, im Wachen sogar, uns selbst für die Urhe-
ber unsrer plötzlichen Einfälle halten. Kein Andrer
kann es seyn; also Wir
! In den psychologischen
Mechanismus, den wahren Urheber, schaut kein Selbst-
bewusstseyn; und wie dergleichen Einfälle mit unserer
Ichheit zusammenhängen, wissen wir schlechterdings nicht.
Sondern es sind dies Bestimmungen, die in das Ich fal-
len, ohne darin zu haften; zufällige Elemente für eine
Complexion, die, wenn man alles Zufällige von ihr ab-
scheiden wollte, nichts übrig behalten würde. (§. 135.)
Wohl uns, dass es mit unsrer Seele besser beschaffen
ist, als mit unserm Ich; dem man eine sehr unverdiente
Ehre erwies, als man es über die Seele emporhob; als
man diese zu entbehren beliebte, um sich an jenem zu
halten!

Damit aber das Wunder jener Träume sich noch
auffallender vermindere, wird es gut seyn, zu zeigen, dass
etwas Aehnliches auch im Wachen vorkomme, und dass
es sehr vielen selbst ausgezeichneten Köpfen, bloss aus
Mangel an Uebung in gewissen philosophischen Reflexio-

die letzte seyn müsse, für welche das Uebrige zum Ob-
ject wird, ohne daſs sie selbst das Object einer höheren
wäre. Warum denn sollte das nicht diejenige seyn, in
welcher die Beschämung ihren Sitz hatte, womit die
Träumenden sich für übertroffen hielten? — Daſs sie es
im Wachen nicht seyn könne, folgt sehr natürlich aus
dem Gegensatze der äuſseren Welt und der inneren, den
uns die Sinne unaufhörlich vergegenwärtigen, und durch
welchen sie uns zwingen, alle unsre Vorstellungen, die
zur Auſsenwelt nicht passen, in das Innere, in Uns selbst
hinein zu verlegen. Ist einmal die ganze Scene für einen
Traum erkannt, so muſs freylich zugestanden werden,
man habe selbst alle Rollen gespielt. Wiewohl es dem
Aberglauben auch hier nicht an der Ausrede fehlen würde,
irgend ein Dämon habe im rechten Augenblicke mit ein-
gesprochen, und die wirklich fehlende Kenntniſs sup-
plirt. — Es ist in der That nur ein Schluſs, vermittelst
dessen wir, im Wachen sogar, uns selbst für die Urhe-
ber unsrer plötzlichen Einfälle halten. Kein Andrer
kann es seyn; also Wir
! In den psychologischen
Mechanismus, den wahren Urheber, schaut kein Selbst-
bewuſstseyn; und wie dergleichen Einfälle mit unserer
Ichheit zusammenhängen, wissen wir schlechterdings nicht.
Sondern es sind dies Bestimmungen, die in das Ich fal-
len, ohne darin zu haften; zufällige Elemente für eine
Complexion, die, wenn man alles Zufällige von ihr ab-
scheiden wollte, nichts übrig behalten würde. (§. 135.)
Wohl uns, daſs es mit unsrer Seele besser beschaffen
ist, als mit unserm Ich; dem man eine sehr unverdiente
Ehre erwies, als man es über die Seele emporhob; als
man diese zu entbehren beliebte, um sich an jenem zu
halten!

Damit aber das Wunder jener Träume sich noch
auffallender vermindere, wird es gut seyn, zu zeigen, daſs
etwas Aehnliches auch im Wachen vorkomme, und daſs
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Mangel an Uebung in gewissen philosophischen Reflexio-

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[500/0535] die letzte seyn müsse, für welche das Uebrige zum Ob- ject wird, ohne daſs sie selbst das Object einer höheren wäre. Warum denn sollte das nicht diejenige seyn, in welcher die Beschämung ihren Sitz hatte, womit die Träumenden sich für übertroffen hielten? — Daſs sie es im Wachen nicht seyn könne, folgt sehr natürlich aus dem Gegensatze der äuſseren Welt und der inneren, den uns die Sinne unaufhörlich vergegenwärtigen, und durch welchen sie uns zwingen, alle unsre Vorstellungen, die zur Auſsenwelt nicht passen, in das Innere, in Uns selbst hinein zu verlegen. Ist einmal die ganze Scene für einen Traum erkannt, so muſs freylich zugestanden werden, man habe selbst alle Rollen gespielt. Wiewohl es dem Aberglauben auch hier nicht an der Ausrede fehlen würde, irgend ein Dämon habe im rechten Augenblicke mit ein- gesprochen, und die wirklich fehlende Kenntniſs sup- plirt. — Es ist in der That nur ein Schluſs, vermittelst dessen wir, im Wachen sogar, uns selbst für die Urhe- ber unsrer plötzlichen Einfälle halten. Kein Andrer kann es seyn; also Wir! In den psychologischen Mechanismus, den wahren Urheber, schaut kein Selbst- bewuſstseyn; und wie dergleichen Einfälle mit unserer Ichheit zusammenhängen, wissen wir schlechterdings nicht. Sondern es sind dies Bestimmungen, die in das Ich fal- len, ohne darin zu haften; zufällige Elemente für eine Complexion, die, wenn man alles Zufällige von ihr ab- scheiden wollte, nichts übrig behalten würde. (§. 135.) Wohl uns, daſs es mit unsrer Seele besser beschaffen ist, als mit unserm Ich; dem man eine sehr unverdiente Ehre erwies, als man es über die Seele emporhob; als man diese zu entbehren beliebte, um sich an jenem zu halten! Damit aber das Wunder jener Träume sich noch auffallender vermindere, wird es gut seyn, zu zeigen, daſs etwas Aehnliches auch im Wachen vorkomme, und daſs es sehr vielen selbst ausgezeichneten Köpfen, bloſs aus Mangel an Uebung in gewissen philosophischen Reflexio-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/535>, abgerufen am 27.04.2024.