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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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sönlichkeit bekommen müsste, wenn nicht bey gesunder
Besonnenheit alle Vorstellungsmassen einander gegensei-
tig bestimmten und sich so mannigfaltig unter einander
verknüpften.

Nun denke man sich den allmähligen Uebergang des
Verständigen zum Wahnsinn. Drückende Körpergefühle
machen ihn mehr und mehr untauglich zu seinen gewohn-
ten Verrichtungen; er findet sich nicht mehr als den thä-
tigen, planvollen, seiner Verhältnisse mächtigen Men-
schen, als den er sich sonst dachte. Dagegen müssen
jene Körpergefühle mit aufgenommen werden in die An-
gabe dessen, was er als sein eignes Selbst kennt. Diese
geben ohne Zweifel die Grundlage zu einer neuen Indi-
vidualität, welche nur braucht von den Erinnerungen an
die Vergangenheit losgerissen zu werden, und mit neuen
Gedankenmassen in Verbindung zu treten, um ein Ich
zu ergeben, das mit dem frühern nicht zusammenhängt.

Um die losreissende Kraft aber, wodurch das eine
vom andern getrennt, und eben deshalb das neu entste-
hende Ich solcher Bestimmungen fähig werden soll, die
dem alten gerade widersprechen, -- um diese Kraft sind
wir hier gewiss nicht verlegen. Es ist dieselbe, welche
überhaupt so oft die Gedankenfäden des Wahnsinnigen
zerschneidet, welche sein Benehmen und Sprechen mehr
oder minder desultorisch und inconsequent macht; die-
selbe, durch welche es unmöglich wird, dass viele ver-
schiedene Vorstellungsmassen zugleich in seinem Bewusst-
seyn gegenwärtig seyen, und auf einander einwirken. Es
ist die physiologische Hemmung des Vorstellens, welche
die Krankheit mit sich bringt. Wenn diese sich mit
irgend einer phantastischen Aufregung vereinigt, so ha-
ben wir zwey Kräfte, von denen alle Erinnerungen der
frühern Ichheit auf die Schwelle des Bewusstseyns kön-
nen getrieben werden. Die jetzigen Körpergefühle, sammt
der eben vorhandenen Phantasie, ergeben um so siche-
rer ein neues Ich, je vester sie sich unter einander com-

pliciren

sönlichkeit bekommen müſste, wenn nicht bey gesunder
Besonnenheit alle Vorstellungsmassen einander gegensei-
tig bestimmten und sich so mannigfaltig unter einander
verknüpften.

Nun denke man sich den allmähligen Uebergang des
Verständigen zum Wahnsinn. Drückende Körpergefühle
machen ihn mehr und mehr untauglich zu seinen gewohn-
ten Verrichtungen; er findet sich nicht mehr als den thä-
tigen, planvollen, seiner Verhältnisse mächtigen Men-
schen, als den er sich sonst dachte. Dagegen müssen
jene Körpergefühle mit aufgenommen werden in die An-
gabe dessen, was er als sein eignes Selbst kennt. Diese
geben ohne Zweifel die Grundlage zu einer neuen Indi-
vidualität, welche nur braucht von den Erinnerungen an
die Vergangenheit losgerissen zu werden, und mit neuen
Gedankenmassen in Verbindung zu treten, um ein Ich
zu ergeben, das mit dem frühern nicht zusammenhängt.

Um die losreiſsende Kraft aber, wodurch das eine
vom andern getrennt, und eben deshalb das neu entste-
hende Ich solcher Bestimmungen fähig werden soll, die
dem alten gerade widersprechen, — um diese Kraft sind
wir hier gewiſs nicht verlegen. Es ist dieselbe, welche
überhaupt so oft die Gedankenfäden des Wahnsinnigen
zerschneidet, welche sein Benehmen und Sprechen mehr
oder minder desultorisch und inconsequent macht; die-
selbe, durch welche es unmöglich wird, daſs viele ver-
schiedene Vorstellungsmassen zugleich in seinem Bewuſst-
seyn gegenwärtig seyen, und auf einander einwirken. Es
ist die physiologische Hemmung des Vorstellens, welche
die Krankheit mit sich bringt. Wenn diese sich mit
irgend einer phantastischen Aufregung vereinigt, so ha-
ben wir zwey Kräfte, von denen alle Erinnerungen der
frühern Ichheit auf die Schwelle des Bewuſstseyns kön-
nen getrieben werden. Die jetzigen Körpergefühle, sammt
der eben vorhandenen Phantasie, ergeben um so siche-
rer ein neues Ich, je vester sie sich unter einander com-

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[512/0547] sönlichkeit bekommen müſste, wenn nicht bey gesunder Besonnenheit alle Vorstellungsmassen einander gegensei- tig bestimmten und sich so mannigfaltig unter einander verknüpften. Nun denke man sich den allmähligen Uebergang des Verständigen zum Wahnsinn. Drückende Körpergefühle machen ihn mehr und mehr untauglich zu seinen gewohn- ten Verrichtungen; er findet sich nicht mehr als den thä- tigen, planvollen, seiner Verhältnisse mächtigen Men- schen, als den er sich sonst dachte. Dagegen müssen jene Körpergefühle mit aufgenommen werden in die An- gabe dessen, was er als sein eignes Selbst kennt. Diese geben ohne Zweifel die Grundlage zu einer neuen Indi- vidualität, welche nur braucht von den Erinnerungen an die Vergangenheit losgerissen zu werden, und mit neuen Gedankenmassen in Verbindung zu treten, um ein Ich zu ergeben, das mit dem frühern nicht zusammenhängt. Um die losreiſsende Kraft aber, wodurch das eine vom andern getrennt, und eben deshalb das neu entste- hende Ich solcher Bestimmungen fähig werden soll, die dem alten gerade widersprechen, — um diese Kraft sind wir hier gewiſs nicht verlegen. Es ist dieselbe, welche überhaupt so oft die Gedankenfäden des Wahnsinnigen zerschneidet, welche sein Benehmen und Sprechen mehr oder minder desultorisch und inconsequent macht; die- selbe, durch welche es unmöglich wird, daſs viele ver- schiedene Vorstellungsmassen zugleich in seinem Bewuſst- seyn gegenwärtig seyen, und auf einander einwirken. Es ist die physiologische Hemmung des Vorstellens, welche die Krankheit mit sich bringt. Wenn diese sich mit irgend einer phantastischen Aufregung vereinigt, so ha- ben wir zwey Kräfte, von denen alle Erinnerungen der frühern Ichheit auf die Schwelle des Bewuſstseyns kön- nen getrieben werden. Die jetzigen Körpergefühle, sammt der eben vorhandenen Phantasie, ergeben um so siche- rer ein neues Ich, je vester sie sich unter einander com- pliciren

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/547>, abgerufen am 29.04.2024.