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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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man sich doch hüten, die Aehnlichkeit zu übertreiben.
Dahin gehören folgende Bemerkungen:

1) Weder der menschliche Geist noch der Staat
haben ursprünglich die Beschaffenheit eines bestimm-
ten organischen Keims *). Hätten sie ihn: so würden
Erziehungskunst und Staatskunst sich in eine Art von
Gärtnerey verwandeln, die nur dem Keime Gelegenheit
giebt, sich zu entwickeln, ihn aber nicht umschaffen kann.
Aber beyde, der Geist und der Staat, nähern sich
allmählig
der Natur eines organischen Wesens; indem
jeder Grad von schon empfangener Bildung dazu beiträgt,
die Art von Assimilation zu bestimmen, wodurch das
Neue vom Alten angeeignet wird.

2) Der lebende Organismus hat seine Perioden des
Wachsens und Abnehmens; man hat dies oftmals auf
Staaten übertragen, als ob sie schwach würden vor Alter.
Da ich hier die Grundsätze der Mechanik des Geistes
angewandt habe, so könnte ich in Versuchung gerathen,
eben dieselbe Behauptung anzuknüpfen an die Lehre von
der abnehmenden Empfänglichkeit (§. 94--99.). Allein

*) Diesen Satz will ich hier nicht beweisen; in Ansehung des
menschlichen Geistes geht er sehr leicht aus der allgemeinen Meta-
physik, und mit vermehrter Evidenz aus dem Ganzen dieses Werks
hervor. -- Vor nicht langer Zeit erscholl gegen mich von zweyen,
oder gar von mehrern Seiten der Vorwurf: "Nichts bewiesen!"
Diejenigen, welche den Ruf ertönen liessen, führten durch den ganzen
Zusammenhang den factischen Beweis, dass sie sich nicht die geringste
Mühe gegeben haben, meine längst geführten Beweise in meinen frü-
hern Schriften aufzusuchen, und verstehen zu lernen. Wer wissen
will, was ich bewiesen oder nicht bewiesen habe, der muss meine
praktische Philosophie, meine Hauptpuncte der Metaphysik, die Ab-
handlungen de attractione elementorum und de attentionis mensura,
nebst meiner Einleitung in die Philosophie, und dem gegenwärtigen
Werke, genau kennen. Er versuche, zu widerlegen! -- Uebrigens die-
nen deutlich ausgesprochene Behauptungen, ohne Beweis, zwar nicht
statt der Beweise; wohl aber zum Verstehen; auch ist das Ver-
trauen, der Leser werde sehr nahe liegende Mittelglieder eines Bewei-
ses selbst finden, in mathematischen Schriften längst üblich.

man sich doch hüten, die Aehnlichkeit zu übertreiben.
Dahin gehören folgende Bemerkungen:

1) Weder der menschliche Geist noch der Staat
haben ursprünglich die Beschaffenheit eines bestimm-
ten organischen Keims *). Hätten sie ihn: so würden
Erziehungskunst und Staatskunst sich in eine Art von
Gärtnerey verwandeln, die nur dem Keime Gelegenheit
giebt, sich zu entwickeln, ihn aber nicht umschaffen kann.
Aber beyde, der Geist und der Staat, nähern sich
allmählig
der Natur eines organischen Wesens; indem
jeder Grad von schon empfangener Bildung dazu beiträgt,
die Art von Assimilation zu bestimmen, wodurch das
Neue vom Alten angeeignet wird.

2) Der lebende Organismus hat seine Perioden des
Wachsens und Abnehmens; man hat dies oftmals auf
Staaten übertragen, als ob sie schwach würden vor Alter.
Da ich hier die Grundsätze der Mechanik des Geistes
angewandt habe, so könnte ich in Versuchung gerathen,
eben dieselbe Behauptung anzuknüpfen an die Lehre von
der abnehmenden Empfänglichkeit (§. 94—99.). Allein

*) Diesen Satz will ich hier nicht beweisen; in Ansehung des
menschlichen Geistes geht er sehr leicht aus der allgemeinen Meta-
physik, und mit vermehrter Evidenz aus dem Ganzen dieses Werks
hervor. — Vor nicht langer Zeit erscholl gegen mich von zweyen,
oder gar von mehrern Seiten der Vorwurf: »Nichts bewiesen
Diejenigen, welche den Ruf ertönen lieſsen, führten durch den ganzen
Zusammenhang den factischen Beweis, daſs sie sich nicht die geringste
Mühe gegeben haben, meine längst geführten Beweise in meinen frü-
hern Schriften aufzusuchen, und verstehen zu lernen. Wer wissen
will, was ich bewiesen oder nicht bewiesen habe, der muſs meine
praktische Philosophie, meine Hauptpuncte der Metaphysik, die Ab-
handlungen de attractione elementorum und de attentionis mensura,
nebst meiner Einleitung in die Philosophie, und dem gegenwärtigen
Werke, genau kennen. Er versuche, zu widerlegen! — Uebrigens die-
nen deutlich ausgesprochene Behauptungen, ohne Beweis, zwar nicht
statt der Beweise; wohl aber zum Verstehen; auch ist das Ver-
trauen, der Leser werde sehr nahe liegende Mittelglieder eines Bewei-
ses selbst finden, in mathematischen Schriften längst üblich.
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[34/0069] man sich doch hüten, die Aehnlichkeit zu übertreiben. Dahin gehören folgende Bemerkungen: 1) Weder der menschliche Geist noch der Staat haben ursprünglich die Beschaffenheit eines bestimm- ten organischen Keims *). Hätten sie ihn: so würden Erziehungskunst und Staatskunst sich in eine Art von Gärtnerey verwandeln, die nur dem Keime Gelegenheit giebt, sich zu entwickeln, ihn aber nicht umschaffen kann. Aber beyde, der Geist und der Staat, nähern sich allmählig der Natur eines organischen Wesens; indem jeder Grad von schon empfangener Bildung dazu beiträgt, die Art von Assimilation zu bestimmen, wodurch das Neue vom Alten angeeignet wird. 2) Der lebende Organismus hat seine Perioden des Wachsens und Abnehmens; man hat dies oftmals auf Staaten übertragen, als ob sie schwach würden vor Alter. Da ich hier die Grundsätze der Mechanik des Geistes angewandt habe, so könnte ich in Versuchung gerathen, eben dieselbe Behauptung anzuknüpfen an die Lehre von der abnehmenden Empfänglichkeit (§. 94—99.). Allein *) Diesen Satz will ich hier nicht beweisen; in Ansehung des menschlichen Geistes geht er sehr leicht aus der allgemeinen Meta- physik, und mit vermehrter Evidenz aus dem Ganzen dieses Werks hervor. — Vor nicht langer Zeit erscholl gegen mich von zweyen, oder gar von mehrern Seiten der Vorwurf: »Nichts bewiesen!« Diejenigen, welche den Ruf ertönen lieſsen, führten durch den ganzen Zusammenhang den factischen Beweis, daſs sie sich nicht die geringste Mühe gegeben haben, meine längst geführten Beweise in meinen frü- hern Schriften aufzusuchen, und verstehen zu lernen. Wer wissen will, was ich bewiesen oder nicht bewiesen habe, der muſs meine praktische Philosophie, meine Hauptpuncte der Metaphysik, die Ab- handlungen de attractione elementorum und de attentionis mensura, nebst meiner Einleitung in die Philosophie, und dem gegenwärtigen Werke, genau kennen. Er versuche, zu widerlegen! — Uebrigens die- nen deutlich ausgesprochene Behauptungen, ohne Beweis, zwar nicht statt der Beweise; wohl aber zum Verstehen; auch ist das Ver- trauen, der Leser werde sehr nahe liegende Mittelglieder eines Bewei- ses selbst finden, in mathematischen Schriften längst üblich.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/69>, abgerufen am 14.05.2024.