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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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Welche von beyden auch in einer vollständigen Tabelle er-
schöpfend dargestellt seyn möchten, dieselben würden ohne
Zweifel die vollzählige Eintheilung der andern ergeben.
Aber ein überzähliges Glied in dem einen Register wird al-
lemal einen Mangel in dem andern andeuten.

Nun finden wir unter den Arten des Wahnsinns die
eingebildeten Vorwürfe, welche der Mensch sich selbst macht,
die vermeintlichen Eingebungen des Teufels, die Verzweif-
lung an der Gnade Gottes, u. dgl. m. Was entspricht
diesen Geistes-Verirrungen in der Reihe der Leidenschaf-
ten? Sehr offenbar ein moralischer und religiöser Enthu-
siasmus, der in Selbst-Quälerey übergeht. Und dies er-
innert weiter an die politischen und gelehrten Leidenschaften,
an alle Arten des Fanatismus. Die wahre Natur dieser
Leidenschaften mußte (nicht bloß Hrn. Maaß, sondern) der
bisherigen Psychologie entgehn, sobald man die Behauptung
consequent durchführen wollte, daß die Leidenschaften zur
Sinnlichkeit
gehörten und deshalb von der Ver-
nunft völlig zu scheiden seyen
.*)
Man schreibt die
Erzeugung moralischer und religiöser Vorstellungen der Ver-
nunft zu; eben diese Vorstellungen und die sämmtlichen ih-
nen verwandten wissenschaftlichen Gedanken und Lehren kön-
nen Gegenstände eines leidenschaftlichen Strebens werden.
Nichts ist so heilig, daß es nicht ein menschliches Gemüth
auf eine heillose Weise sollte erhitzen können. Wie Hunger
und Durst, diese niedrigsten Bedürfnisse, den Unglücklichen
in einen Dieb, einen Räuber und Mörder verwandeln,
so kann auch der Durst des Wissens, so können höhere Be-

*) Man vergleiche die Vorrede zum zweyten Theile des Werks
von Maaß über die Leidenschaften; wo eine Streitfrage vor-
kommt, die beyde Partheyen auf die Verkehrtheit der Lehre von
den Seelenvermögen hinweisen konnte.

Welche von beyden auch in einer vollständigen Tabelle er-
schöpfend dargestellt seyn möchten, dieselben würden ohne
Zweifel die vollzählige Eintheilung der andern ergeben.
Aber ein überzähliges Glied in dem einen Register wird al-
lemal einen Mangel in dem andern andeuten.

Nun finden wir unter den Arten des Wahnsinns die
eingebildeten Vorwürfe, welche der Mensch sich selbst macht,
die vermeintlichen Eingebungen des Teufels, die Verzweif-
lung an der Gnade Gottes, u. dgl. m. Was entspricht
diesen Geistes-Verirrungen in der Reihe der Leidenschaf-
ten? Sehr offenbar ein moralischer und religiöser Enthu-
siasmus, der in Selbst-Quälerey übergeht. Und dies er-
innert weiter an die politischen und gelehrten Leidenschaften,
an alle Arten des Fanatismus. Die wahre Natur dieser
Leidenschaften mußte (nicht bloß Hrn. Maaß, sondern) der
bisherigen Psychologie entgehn, sobald man die Behauptung
consequent durchführen wollte, daß die Leidenschaften zur
Sinnlichkeit
gehörten und deshalb von der Ver-
nunft völlig zu scheiden seyen
.*)
Man schreibt die
Erzeugung moralischer und religiöser Vorstellungen der Ver-
nunft zu; eben diese Vorstellungen und die sämmtlichen ih-
nen verwandten wissenschaftlichen Gedanken und Lehren kön-
nen Gegenstände eines leidenschaftlichen Strebens werden.
Nichts ist so heilig, daß es nicht ein menschliches Gemüth
auf eine heillose Weise sollte erhitzen können. Wie Hunger
und Durst, diese niedrigsten Bedürfnisse, den Unglücklichen
in einen Dieb, einen Räuber und Mörder verwandeln,
so kann auch der Durst des Wissens, so können höhere Be-

*) Man vergleiche die Vorrede zum zweyten Theile des Werks
von Maaß über die Leidenschaften; wo eine Streitfrage vor-
kommt, die beyde Partheyen auf die Verkehrtheit der Lehre von
den Seelenvermögen hinweisen konnte.
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[120/0128] Welche von beyden auch in einer vollständigen Tabelle er- schöpfend dargestellt seyn möchten, dieselben würden ohne Zweifel die vollzählige Eintheilung der andern ergeben. Aber ein überzähliges Glied in dem einen Register wird al- lemal einen Mangel in dem andern andeuten. Nun finden wir unter den Arten des Wahnsinns die eingebildeten Vorwürfe, welche der Mensch sich selbst macht, die vermeintlichen Eingebungen des Teufels, die Verzweif- lung an der Gnade Gottes, u. dgl. m. Was entspricht diesen Geistes-Verirrungen in der Reihe der Leidenschaf- ten? Sehr offenbar ein moralischer und religiöser Enthu- siasmus, der in Selbst-Quälerey übergeht. Und dies er- innert weiter an die politischen und gelehrten Leidenschaften, an alle Arten des Fanatismus. Die wahre Natur dieser Leidenschaften mußte (nicht bloß Hrn. Maaß, sondern) der bisherigen Psychologie entgehn, sobald man die Behauptung consequent durchführen wollte, daß die Leidenschaften zur Sinnlichkeit gehörten und deshalb von der Ver- nunft völlig zu scheiden seyen. *) Man schreibt die Erzeugung moralischer und religiöser Vorstellungen der Ver- nunft zu; eben diese Vorstellungen und die sämmtlichen ih- nen verwandten wissenschaftlichen Gedanken und Lehren kön- nen Gegenstände eines leidenschaftlichen Strebens werden. Nichts ist so heilig, daß es nicht ein menschliches Gemüth auf eine heillose Weise sollte erhitzen können. Wie Hunger und Durst, diese niedrigsten Bedürfnisse, den Unglücklichen in einen Dieb, einen Räuber und Mörder verwandeln, so kann auch der Durst des Wissens, so können höhere Be- *) Man vergleiche die Vorrede zum zweyten Theile des Werks von Maaß über die Leidenschaften; wo eine Streitfrage vor- kommt, die beyde Partheyen auf die Verkehrtheit der Lehre von den Seelenvermögen hinweisen konnte.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/128>, abgerufen am 30.04.2024.