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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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gegenwärtigen Vortrage zum Grunde liegen. Von allen
Unterschieden, die in dem wirklichen Jch angetroffen werden,
je nachdem der Mensch sich gedrückt oder gehoben fühlt,
und in seinen Anstrengungen entweder vorrückt oder ermat-
tet, weiß und enthält das Jch, als metaphysisches Princip,
nicht das Mindeste. Fragt man, wie denn diese Unterschiede
hineinkommen, so ist die Antwort: die Untersuchung selbst,
angetrieben von dem Princip, fodert solche Mannigfaltigkeit
und solche Gegensätze; und leitet auf die Bahn, darnach zu
suchen. Das ist die Eigenheit wahrer metaphysischer Princi-
pien, daß sie über sich selbst hinaus, und eben damit in
den Zusammenhang der Erfahrung zurückweisen. Kennte
man durch bloße Erfahrung auch schon den Zusammenhang
in der Erfahrung: so wäre keine Metaphysik nöthig; und
eine solche Wissenschaft wäre überall nicht entstanden. Die
Bewegung des Denkens aber, welche die Metaphysik
herbeyführt, ist bey verschiedenen Problemen nur dem aller-
kleinsten Theile nach gleichartig; sie fodert daher eine sehr
mannigfaltige Uebung. Mit den Verwöhnungen, Alles in
den viereckigen Kasten der sogenannten Kategorien, oder in
den dreyeckigen der Thesis, Antithesis und Synthesis hin-
einzukünsteln, wird der Untersuchungsgeist nicht gefördert
sondern verdorben. Die eine dieser Manieren ist soviel werth
wie die andre.

204. Jetzt erst ist es möglich zu erklären, was An-
schauen
heiße, ein Ausdruck, mit welchem ein heilloser
Mißbrauch vielfältig ist getrieben worden.

Anschauen heißt: ein Object, indem es gegeben wird,
als ein solches und kein anderes auffassen.

Das Object muß dem Subjecte und andern Objecten
gegenüberstehen; es so zu finden ist erst möglich, nachdem
das Jch, als erste Person, sich auf räumliche Weise als
Mittelpunct der Dinge hervorgehoben hat. Gewöhnlich wird

gegenwärtigen Vortrage zum Grunde liegen. Von allen
Unterschieden, die in dem wirklichen Jch angetroffen werden,
je nachdem der Mensch sich gedrückt oder gehoben fühlt,
und in seinen Anstrengungen entweder vorrückt oder ermat-
tet, weiß und enthält das Jch, als metaphysisches Princip,
nicht das Mindeste. Fragt man, wie denn diese Unterschiede
hineinkommen, so ist die Antwort: die Untersuchung selbst,
angetrieben von dem Princip, fodert solche Mannigfaltigkeit
und solche Gegensätze; und leitet auf die Bahn, darnach zu
suchen. Das ist die Eigenheit wahrer metaphysischer Princi-
pien, daß sie über sich selbst hinaus, und eben damit in
den Zusammenhang der Erfahrung zurückweisen. Kennte
man durch bloße Erfahrung auch schon den Zusammenhang
in der Erfahrung: so wäre keine Metaphysik nöthig; und
eine solche Wissenschaft wäre überall nicht entstanden. Die
Bewegung des Denkens aber, welche die Metaphysik
herbeyführt, ist bey verschiedenen Problemen nur dem aller-
kleinsten Theile nach gleichartig; sie fodert daher eine sehr
mannigfaltige Uebung. Mit den Verwöhnungen, Alles in
den viereckigen Kasten der sogenannten Kategorien, oder in
den dreyeckigen der Thesis, Antithesis und Synthesis hin-
einzukünsteln, wird der Untersuchungsgeist nicht gefördert
sondern verdorben. Die eine dieser Manieren ist soviel werth
wie die andre.

204. Jetzt erst ist es möglich zu erklären, was An-
schauen
heiße, ein Ausdruck, mit welchem ein heilloser
Mißbrauch vielfältig ist getrieben worden.

Anschauen heißt: ein Object, indem es gegeben wird,
als ein solches und kein anderes auffassen.

Das Object muß dem Subjecte und andern Objecten
gegenüberstehen; es so zu finden ist erst möglich, nachdem
das Jch, als erste Person, sich auf räumliche Weise als
Mittelpunct der Dinge hervorgehoben hat. Gewöhnlich wird

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[164/0172] gegenwärtigen Vortrage zum Grunde liegen. Von allen Unterschieden, die in dem wirklichen Jch angetroffen werden, je nachdem der Mensch sich gedrückt oder gehoben fühlt, und in seinen Anstrengungen entweder vorrückt oder ermat- tet, weiß und enthält das Jch, als metaphysisches Princip, nicht das Mindeste. Fragt man, wie denn diese Unterschiede hineinkommen, so ist die Antwort: die Untersuchung selbst, angetrieben von dem Princip, fodert solche Mannigfaltigkeit und solche Gegensätze; und leitet auf die Bahn, darnach zu suchen. Das ist die Eigenheit wahrer metaphysischer Princi- pien, daß sie über sich selbst hinaus, und eben damit in den Zusammenhang der Erfahrung zurückweisen. Kennte man durch bloße Erfahrung auch schon den Zusammenhang in der Erfahrung: so wäre keine Metaphysik nöthig; und eine solche Wissenschaft wäre überall nicht entstanden. Die Bewegung des Denkens aber, welche die Metaphysik herbeyführt, ist bey verschiedenen Problemen nur dem aller- kleinsten Theile nach gleichartig; sie fodert daher eine sehr mannigfaltige Uebung. Mit den Verwöhnungen, Alles in den viereckigen Kasten der sogenannten Kategorien, oder in den dreyeckigen der Thesis, Antithesis und Synthesis hin- einzukünsteln, wird der Untersuchungsgeist nicht gefördert sondern verdorben. Die eine dieser Manieren ist soviel werth wie die andre. 204. Jetzt erst ist es möglich zu erklären, was An- schauen heiße, ein Ausdruck, mit welchem ein heilloser Mißbrauch vielfältig ist getrieben worden. Anschauen heißt: ein Object, indem es gegeben wird, als ein solches und kein anderes auffassen. Das Object muß dem Subjecte und andern Objecten gegenüberstehen; es so zu finden ist erst möglich, nachdem das Jch, als erste Person, sich auf räumliche Weise als Mittelpunct der Dinge hervorgehoben hat. Gewöhnlich wird

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/172>, abgerufen am 29.04.2024.