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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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findet sich, daß diejenigen, welche unter die statische Schwelle
(16) fallen, sehr schnell dahin getrieben werden, während
die übrigen ihren statischen Punct in keiner endlichen Zeit
ganz genau erreichen. Wegen des letztern Umstandes sind
beym wachenden Menschen, selbst im besten Gleichmuthe,
doch immer die Vorstellungen in einem gelinden Schweben
begriffen. Dies ist auch der erste Grund, warum die innere
Wahrnehmung niemals einen Gegenstand antrifft, der ihr
ganz still hielte.

18. Wenn zu mehrern Vorstellungen, die schon ihrem
Gleichgewichte nahe waren, eine neue kommt, so entsteht
eine Bewegung, bey welcher jene auf kurze Zeit unter ihren
statischen Punct sinken, nach deren Verlauf sie sich schnell,
und ganz von selbst, wieder erheben. (Ungefähr wie eine
Flüssigkeit erst sinkt, dann steigt, wenn etwas hineingewor-
fen wird.) Hiebei kommen mehrere merkwürdige Um-
stände vor.

19. Erstlich: eine der älteren Vorstellungen kann bey
dieser Gelegenheit durch eine neue, die viel schwächer ist als
sie, auf eine Zeitlang völlig aus dem Bewußtseyn verdrängt
werden. Alsdann aber ist ihr Streben nicht als unwirksam
zu betrachten (wie in dem Falle oben, 16), sondern es
arbeitet mit ganzer Macht wider die im Bewußtseyn befind-
lichen Vorstellungen. Sie bewirkt also einen Zustand des
Bewußtseyns, während ihr Object keinesweges wirklich vor-
gestellt wird. Man benenne die Art und Weise, wie jene
Vorstellungen aus dem Bewußtseyn verdrängt und doch
darin wirksam sind, mit dem Ausdrucke: sie sind auf
der mechanischen Schwelle
; die obige Schwelle (16)
heiße dagegen zum Unterschiede die statische Schwelle.

Anmerkung. Wirkten die Vorstellungen auf der
statischen Schwelle eben so, wie die auf der mechanischen
so würden wir uns unaufhörlich in dem Zustande der un-


findet sich, daß diejenigen, welche unter die statische Schwelle
(16) fallen, sehr schnell dahin getrieben werden, während
die übrigen ihren statischen Punct in keiner endlichen Zeit
ganz genau erreichen. Wegen des letztern Umstandes sind
beym wachenden Menschen, selbst im besten Gleichmuthe,
doch immer die Vorstellungen in einem gelinden Schweben
begriffen. Dies ist auch der erste Grund, warum die innere
Wahrnehmung niemals einen Gegenstand antrifft, der ihr
ganz still hielte.

18. Wenn zu mehrern Vorstellungen, die schon ihrem
Gleichgewichte nahe waren, eine neue kommt, so entsteht
eine Bewegung, bey welcher jene auf kurze Zeit unter ihren
statischen Punct sinken, nach deren Verlauf sie sich schnell,
und ganz von selbst, wieder erheben. (Ungefähr wie eine
Flüssigkeit erst sinkt, dann steigt, wenn etwas hineingewor-
fen wird.) Hiebei kommen mehrere merkwürdige Um-
stände vor.

19. Erstlich: eine der älteren Vorstellungen kann bey
dieser Gelegenheit durch eine neue, die viel schwächer ist als
sie, auf eine Zeitlang völlig aus dem Bewußtseyn verdrängt
werden. Alsdann aber ist ihr Streben nicht als unwirksam
zu betrachten (wie in dem Falle oben, 16), sondern es
arbeitet mit ganzer Macht wider die im Bewußtseyn befind-
lichen Vorstellungen. Sie bewirkt also einen Zustand des
Bewußtseyns, während ihr Object keinesweges wirklich vor-
gestellt wird. Man benenne die Art und Weise, wie jene
Vorstellungen aus dem Bewußtseyn verdrängt und doch
darin wirksam sind, mit dem Ausdrucke: sie sind auf
der mechanischen Schwelle
; die obige Schwelle (16)
heiße dagegen zum Unterschiede die statische Schwelle.

Anmerkung. Wirkten die Vorstellungen auf der
statischen Schwelle eben so, wie die auf der mechanischen
so würden wir uns unaufhörlich in dem Zustande der un-


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[14/0022] findet sich, daß diejenigen, welche unter die statische Schwelle (16) fallen, sehr schnell dahin getrieben werden, während die übrigen ihren statischen Punct in keiner endlichen Zeit ganz genau erreichen. Wegen des letztern Umstandes sind beym wachenden Menschen, selbst im besten Gleichmuthe, doch immer die Vorstellungen in einem gelinden Schweben begriffen. Dies ist auch der erste Grund, warum die innere Wahrnehmung niemals einen Gegenstand antrifft, der ihr ganz still hielte. 18. Wenn zu mehrern Vorstellungen, die schon ihrem Gleichgewichte nahe waren, eine neue kommt, so entsteht eine Bewegung, bey welcher jene auf kurze Zeit unter ihren statischen Punct sinken, nach deren Verlauf sie sich schnell, und ganz von selbst, wieder erheben. (Ungefähr wie eine Flüssigkeit erst sinkt, dann steigt, wenn etwas hineingewor- fen wird.) Hiebei kommen mehrere merkwürdige Um- stände vor. 19. Erstlich: eine der älteren Vorstellungen kann bey dieser Gelegenheit durch eine neue, die viel schwächer ist als sie, auf eine Zeitlang völlig aus dem Bewußtseyn verdrängt werden. Alsdann aber ist ihr Streben nicht als unwirksam zu betrachten (wie in dem Falle oben, 16), sondern es arbeitet mit ganzer Macht wider die im Bewußtseyn befind- lichen Vorstellungen. Sie bewirkt also einen Zustand des Bewußtseyns, während ihr Object keinesweges wirklich vor- gestellt wird. Man benenne die Art und Weise, wie jene Vorstellungen aus dem Bewußtseyn verdrängt und doch darin wirksam sind, mit dem Ausdrucke: sie sind auf der mechanischen Schwelle; die obige Schwelle (16) heiße dagegen zum Unterschiede die statische Schwelle. Anmerkung. Wirkten die Vorstellungen auf der statischen Schwelle eben so, wie die auf der mechanischen so würden wir uns unaufhörlich in dem Zustande der un-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/22>, abgerufen am 03.05.2024.