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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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läßt sich gewiß nicht mit einem Stabe das Wun-
der thun, gewiß nicht mit der Einzigen kalten
Abstraktionsgabe der Philosophen
je Sprache
erfinden -- war das aber unsre Frage? Drang
jener Weltsinn nicht tiefer? Und waren bei dem
beständigen Zusammenstrom aller Sinne, in dessen
Mittelpunkt immer der innere Sinn wachte, nicht
immer neue Merkmale, Ordnungen, Gesichts-
punkte, schnelle Schlußarten gegenwärtig, und
also immer neue Bereicherungen der Sprache?
Und empfing also zu dieser, (wenn man nicht auf
acht partes Orationis rechnen will,) die menschliche
Seele nicht ihre besten Eingebungen, so lange sie
noch ohne alle Anreitzungen der Gesellschaft sich
nur selbst desto mächtiger anreizte, sich alle die
Thätigkeit der Empfindung und des Gedankens
gab, die sie sich nach innerm Drang und äußern
Erfordernissen geben mußte -- da gebar sich
Sprache mit der ganzen Entwiklung der
menschlichen Kräfte.

Es ist für mich unbegreiflich, wie unser Jahr-
hundert so tief in die Schatten, in die dunkeln
Werkstäten des Kunstmäßigen sich verlieren kann,

ohne

laͤßt ſich gewiß nicht mit einem Stabe das Wun-
der thun, gewiß nicht mit der Einzigen kalten
Abſtraktionsgabe der Philoſophen
je Sprache
erfinden — war das aber unſre Frage? Drang
jener Weltſinn nicht tiefer? Und waren bei dem
beſtaͤndigen Zuſammenſtrom aller Sinne, in deſſen
Mittelpunkt immer der innere Sinn wachte, nicht
immer neue Merkmale, Ordnungen, Geſichts-
punkte, ſchnelle Schlußarten gegenwaͤrtig, und
alſo immer neue Bereicherungen der Sprache?
Und empfing alſo zu dieſer, (wenn man nicht auf
acht partes Orationis rechnen will,) die menſchliche
Seele nicht ihre beſten Eingebungen, ſo lange ſie
noch ohne alle Anreitzungen der Geſellſchaft ſich
nur ſelbſt deſto maͤchtiger anreizte, ſich alle die
Thaͤtigkeit der Empfindung und des Gedankens
gab, die ſie ſich nach innerm Drang und aͤußern
Erforderniſſen geben mußte — da gebar ſich
Sprache mit der ganzen Entwiklung der
menſchlichen Kraͤfte.

Es iſt fuͤr mich unbegreiflich, wie unſer Jahr-
hundert ſo tief in die Schatten, in die dunkeln
Werkſtaͤten des Kunſtmaͤßigen ſich verlieren kann,

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[168/0174] laͤßt ſich gewiß nicht mit einem Stabe das Wun- der thun, gewiß nicht mit der Einzigen kalten Abſtraktionsgabe der Philoſophen je Sprache erfinden — war das aber unſre Frage? Drang jener Weltſinn nicht tiefer? Und waren bei dem beſtaͤndigen Zuſammenſtrom aller Sinne, in deſſen Mittelpunkt immer der innere Sinn wachte, nicht immer neue Merkmale, Ordnungen, Geſichts- punkte, ſchnelle Schlußarten gegenwaͤrtig, und alſo immer neue Bereicherungen der Sprache? Und empfing alſo zu dieſer, (wenn man nicht auf acht partes Orationis rechnen will,) die menſchliche Seele nicht ihre beſten Eingebungen, ſo lange ſie noch ohne alle Anreitzungen der Geſellſchaft ſich nur ſelbſt deſto maͤchtiger anreizte, ſich alle die Thaͤtigkeit der Empfindung und des Gedankens gab, die ſie ſich nach innerm Drang und aͤußern Erforderniſſen geben mußte — da gebar ſich Sprache mit der ganzen Entwiklung der menſchlichen Kraͤfte. Es iſt fuͤr mich unbegreiflich, wie unſer Jahr- hundert ſo tief in die Schatten, in die dunkeln Werkſtaͤten des Kunſtmaͤßigen ſich verlieren kann, ohne

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/174>, abgerufen am 28.04.2024.