Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

ist also auch Musik die erste schöne Kunst, die ihre Seele be-
weget. Das Gemählde der Natur fürs Auge ist so mannich-
falt abwechselnd und groß, daß der nachahmende Geschmack
lange umhertappen und sich an der Barbarei des Ungeheuern,
des Auffallenden versuchen muß, ehe er richtige Proportionen
lernet. Aber die Tonkunst, wie einfach und rohe sie sei, sie
spricht zu allen menschlichen Herzen und ist nebst dem Tanz
das allgemeine Freudenfest der Natur auf der Erde. Schade
nur daß aus zu zärtlichem Geschmack die meisten Reisenden
uns diese kindlichen Töne fremder Völker versagen. So
unbrauchbar sie dem Tonkünstler seyn mögen; so unterrichtend
sind sie für den Forscher der Menschheit: denn die Musik ei-
ner Nation auch in ihren unvollkommensten Gängen und Lieb-
lingstönen zeigt den innern Charakter derselben d. i. die eigent-
liche Stimmung ihres empfindenden Organs tiefer und wah-
rer, als ihn die längste Beschreibung äußerer Zufälligkeiten
zu schildern vermöchte. --

Je mehr ich übrigens der ganzen Sinnlichkeit des Men-
schen in seinen mancherlei Gegenden und Lebensarten nach-
spüre; desto mehr finde ich daß die Natur sich allenthalben
als eine gütige Mutter bewiesen habe. Wo ein Organ weni-
ger befriedigt werden konnte, reizte sie es auch minder und läßt
Jahrtausende hindurch es milde schlummern. Wo sie die

Werk-
S 3

iſt alſo auch Muſik die erſte ſchoͤne Kunſt, die ihre Seele be-
weget. Das Gemaͤhlde der Natur fuͤrs Auge iſt ſo mannich-
falt abwechſelnd und groß, daß der nachahmende Geſchmack
lange umhertappen und ſich an der Barbarei des Ungeheuern,
des Auffallenden verſuchen muß, ehe er richtige Proportionen
lernet. Aber die Tonkunſt, wie einfach und rohe ſie ſei, ſie
ſpricht zu allen menſchlichen Herzen und iſt nebſt dem Tanz
das allgemeine Freudenfeſt der Natur auf der Erde. Schade
nur daß aus zu zaͤrtlichem Geſchmack die meiſten Reiſenden
uns dieſe kindlichen Toͤne fremder Voͤlker verſagen. So
unbrauchbar ſie dem Tonkuͤnſtler ſeyn moͤgen; ſo unterrichtend
ſind ſie fuͤr den Forſcher der Menſchheit: denn die Muſik ei-
ner Nation auch in ihren unvollkommenſten Gaͤngen und Lieb-
lingstoͤnen zeigt den innern Charakter derſelben d. i. die eigent-
liche Stimmung ihres empfindenden Organs tiefer und wah-
rer, als ihn die laͤngſte Beſchreibung aͤußerer Zufaͤlligkeiten
zu ſchildern vermoͤchte. —

Je mehr ich uͤbrigens der ganzen Sinnlichkeit des Men-
ſchen in ſeinen mancherlei Gegenden und Lebensarten nach-
ſpuͤre; deſto mehr finde ich daß die Natur ſich allenthalben
als eine guͤtige Mutter bewieſen habe. Wo ein Organ weni-
ger befriedigt werden konnte, reizte ſie es auch minder und laͤßt
Jahrtauſende hindurch es milde ſchlummern. Wo ſie die

Werk-
S 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0153" n="141"/>
i&#x017F;t al&#x017F;o auch Mu&#x017F;ik die er&#x017F;te &#x017F;cho&#x0364;ne Kun&#x017F;t, die ihre Seele be-<lb/>
weget. Das Gema&#x0364;hlde der Natur fu&#x0364;rs Auge i&#x017F;t &#x017F;o mannich-<lb/>
falt abwech&#x017F;elnd und groß, daß der nachahmende Ge&#x017F;chmack<lb/>
lange umhertappen und &#x017F;ich an der Barbarei des Ungeheuern,<lb/>
des Auffallenden ver&#x017F;uchen muß, ehe er richtige Proportionen<lb/>
lernet. Aber die Tonkun&#x017F;t, wie einfach und rohe &#x017F;ie &#x017F;ei, &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;pricht zu allen men&#x017F;chlichen Herzen und i&#x017F;t neb&#x017F;t dem Tanz<lb/>
das allgemeine Freudenfe&#x017F;t der Natur auf der Erde. Schade<lb/>
nur daß aus zu za&#x0364;rtlichem Ge&#x017F;chmack die mei&#x017F;ten Rei&#x017F;enden<lb/>
uns die&#x017F;e kindlichen To&#x0364;ne fremder Vo&#x0364;lker ver&#x017F;agen. So<lb/>
unbrauchbar &#x017F;ie dem Tonku&#x0364;n&#x017F;tler &#x017F;eyn mo&#x0364;gen; &#x017F;o unterrichtend<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;ie fu&#x0364;r den For&#x017F;cher der Men&#x017F;chheit: denn die Mu&#x017F;ik ei-<lb/>
ner Nation auch in ihren unvollkommen&#x017F;ten Ga&#x0364;ngen und Lieb-<lb/>
lingsto&#x0364;nen zeigt den innern Charakter der&#x017F;elben d. i. die eigent-<lb/>
liche Stimmung ihres empfindenden Organs tiefer und wah-<lb/>
rer, als ihn die la&#x0364;ng&#x017F;te Be&#x017F;chreibung a&#x0364;ußerer Zufa&#x0364;lligkeiten<lb/>
zu &#x017F;childern vermo&#x0364;chte. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Je mehr ich u&#x0364;brigens der ganzen Sinnlichkeit des Men-<lb/>
&#x017F;chen in &#x017F;einen mancherlei Gegenden und Lebensarten nach-<lb/>
&#x017F;pu&#x0364;re; de&#x017F;to mehr finde ich daß die Natur &#x017F;ich allenthalben<lb/>
als eine gu&#x0364;tige Mutter bewie&#x017F;en habe. Wo ein Organ weni-<lb/>
ger befriedigt werden konnte, reizte &#x017F;ie es auch minder und la&#x0364;ßt<lb/>
Jahrtau&#x017F;ende hindurch es milde &#x017F;chlummern. Wo &#x017F;ie die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">S 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Werk-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0153] iſt alſo auch Muſik die erſte ſchoͤne Kunſt, die ihre Seele be- weget. Das Gemaͤhlde der Natur fuͤrs Auge iſt ſo mannich- falt abwechſelnd und groß, daß der nachahmende Geſchmack lange umhertappen und ſich an der Barbarei des Ungeheuern, des Auffallenden verſuchen muß, ehe er richtige Proportionen lernet. Aber die Tonkunſt, wie einfach und rohe ſie ſei, ſie ſpricht zu allen menſchlichen Herzen und iſt nebſt dem Tanz das allgemeine Freudenfeſt der Natur auf der Erde. Schade nur daß aus zu zaͤrtlichem Geſchmack die meiſten Reiſenden uns dieſe kindlichen Toͤne fremder Voͤlker verſagen. So unbrauchbar ſie dem Tonkuͤnſtler ſeyn moͤgen; ſo unterrichtend ſind ſie fuͤr den Forſcher der Menſchheit: denn die Muſik ei- ner Nation auch in ihren unvollkommenſten Gaͤngen und Lieb- lingstoͤnen zeigt den innern Charakter derſelben d. i. die eigent- liche Stimmung ihres empfindenden Organs tiefer und wah- rer, als ihn die laͤngſte Beſchreibung aͤußerer Zufaͤlligkeiten zu ſchildern vermoͤchte. — Je mehr ich uͤbrigens der ganzen Sinnlichkeit des Men- ſchen in ſeinen mancherlei Gegenden und Lebensarten nach- ſpuͤre; deſto mehr finde ich daß die Natur ſich allenthalben als eine guͤtige Mutter bewieſen habe. Wo ein Organ weni- ger befriedigt werden konnte, reizte ſie es auch minder und laͤßt Jahrtauſende hindurch es milde ſchlummern. Wo ſie die Werk- S 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/153
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/153>, abgerufen am 28.04.2024.