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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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hätte: so wünschte ich ihm den ruhigen Bemerkungsgeist, der
zuerst frei von allen Hypothesen der Uebereinstimmung und
Abstammung, allenthalben nur wie auf seinem Ort wäre und
auch jede Thorheit seiner Mitbrüder lehrreich zu machen wüß-
te. Was ich auszuzeichnen habe, sind einige allgemeine Wahr-
nehmungen aus diesem lebendigen Schattenreich phantasi-
render Völker.

1. Ueberall charakterisiren sich in ihm Klimate
und Nationen.
Man halte die Grönländische mit der Jn-
dischen, die Lappländische mit der Japanischen, die Peruanische
mit der Negermythologie zusammen; eine völlige Geographie
der dichtenden Seele. Der Bramine würde sich kaum Ein
Bild denken können, wenn man ihm die Voluspa der Jslän-
der vorläse und erklärte: der Jsländer fände beim Wedam
sich eben so fremde. Jeder Nation ist ihre Vorstellungsart
um so tiefer eingeprägt, weil sie ihr eigen, mit ihrem Himmel
und ihrer Erde verwandt, aus ihrer Lebensart entsproßen, von
Vätern und Urvätern auf sie vererbt ist. Wobei ein Fremder
am meisten staunt, glauben sie am deutlichsten zu begreifen:
wobei er lacht, sind sie höchst ernsthaft. Die Jndier sagen,
daß das Schicksal des Menschen in sein Gehirn geschrieben
sei, dessen feine Striche die unlesbaren Lettern aus dem Buch
des Verhängnißes darstellten; oft sind die willkührlichsten

Natio-

haͤtte: ſo wuͤnſchte ich ihm den ruhigen Bemerkungsgeiſt, der
zuerſt frei von allen Hypotheſen der Uebereinſtimmung und
Abſtammung, allenthalben nur wie auf ſeinem Ort waͤre und
auch jede Thorheit ſeiner Mitbruͤder lehrreich zu machen wuͤß-
te. Was ich auszuzeichnen habe, ſind einige allgemeine Wahr-
nehmungen aus dieſem lebendigen Schattenreich phantaſi-
render Voͤlker.

1. Ueberall charakteriſiren ſich in ihm Klimate
und Nationen.
Man halte die Groͤnlaͤndiſche mit der Jn-
diſchen, die Lapplaͤndiſche mit der Japaniſchen, die Peruaniſche
mit der Negermythologie zuſammen; eine voͤllige Geographie
der dichtenden Seele. Der Bramine wuͤrde ſich kaum Ein
Bild denken koͤnnen, wenn man ihm die Voluſpa der Jslaͤn-
der vorlaͤſe und erklaͤrte: der Jslaͤnder faͤnde beim Wedam
ſich eben ſo fremde. Jeder Nation iſt ihre Vorſtellungsart
um ſo tiefer eingepraͤgt, weil ſie ihr eigen, mit ihrem Himmel
und ihrer Erde verwandt, aus ihrer Lebensart entſproßen, von
Vaͤtern und Urvaͤtern auf ſie vererbt iſt. Wobei ein Fremder
am meiſten ſtaunt, glauben ſie am deutlichſten zu begreifen:
wobei er lacht, ſind ſie hoͤchſt ernſthaft. Die Jndier ſagen,
daß das Schickſal des Menſchen in ſein Gehirn geſchrieben
ſei, deſſen feine Striche die unlesbaren Lettern aus dem Buch
des Verhaͤngnißes darſtellten; oft ſind die willkuͤhrlichſten

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[148/0160] haͤtte: ſo wuͤnſchte ich ihm den ruhigen Bemerkungsgeiſt, der zuerſt frei von allen Hypotheſen der Uebereinſtimmung und Abſtammung, allenthalben nur wie auf ſeinem Ort waͤre und auch jede Thorheit ſeiner Mitbruͤder lehrreich zu machen wuͤß- te. Was ich auszuzeichnen habe, ſind einige allgemeine Wahr- nehmungen aus dieſem lebendigen Schattenreich phantaſi- render Voͤlker. 1. Ueberall charakteriſiren ſich in ihm Klimate und Nationen. Man halte die Groͤnlaͤndiſche mit der Jn- diſchen, die Lapplaͤndiſche mit der Japaniſchen, die Peruaniſche mit der Negermythologie zuſammen; eine voͤllige Geographie der dichtenden Seele. Der Bramine wuͤrde ſich kaum Ein Bild denken koͤnnen, wenn man ihm die Voluſpa der Jslaͤn- der vorlaͤſe und erklaͤrte: der Jslaͤnder faͤnde beim Wedam ſich eben ſo fremde. Jeder Nation iſt ihre Vorſtellungsart um ſo tiefer eingepraͤgt, weil ſie ihr eigen, mit ihrem Himmel und ihrer Erde verwandt, aus ihrer Lebensart entſproßen, von Vaͤtern und Urvaͤtern auf ſie vererbt iſt. Wobei ein Fremder am meiſten ſtaunt, glauben ſie am deutlichſten zu begreifen: wobei er lacht, ſind ſie hoͤchſt ernſthaft. Die Jndier ſagen, daß das Schickſal des Menſchen in ſein Gehirn geſchrieben ſei, deſſen feine Striche die unlesbaren Lettern aus dem Buch des Verhaͤngnißes darſtellten; oft ſind die willkuͤhrlichſten Natio-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/160>, abgerufen am 28.04.2024.