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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Der Schäfer siehet die Natur mit andern Augen an als der
Fischer und Jäger: und in jedem Erdstrich sind auch diese
Gewerbe wiederum, wie die Charaktere der Nationen, ver-
schieden. Mich wunderte z. B. in der Mythologie der so
nördlichen Kamtschadalen eine freche Lüsternheit zu bemerken,
die man eher bei einer südlichen Nation suchen sollte; ihr
Klima indessen und ihr genetischer Charakter geben auch über
diese Anomalie Aufschlußa). Jhr kaltes Land hat Feuer-
speiende Berge und heiße Quellen: starrende Kälte und ko-
chende Glut sind im Streit daselbst; ihre lüsterne Sitten,
wie ihre grobe mythologische Possen sind ein natürliches Pro-
duct von beiden. Ein Gleiches ists mit jenen Mährchen der
schwatzhaften, brausenden Neger, die weder Anfang noch En-
de habenb): ein Gleiches mit der zusammengedrückten, vesten
Mythologie der Nord-Amerikanerc); ein Gleiches mit der
Blumenphantasie der Jndierd), die, wie sie selbst, die wohl-
lüstige Ruhe des Paradieses hauchet. Jhre Götter baden
in Milch- und Zuckerseen: ihre Göttinnen wohnen auf küh-
lenden Teichen im Kelch süßduftender Blumen. Kurz, die

Mytho-
a) S. Steller, Krascheninikow u. f.
b) S. Römer, Boßmann, Müller, Oldendorp u. f.
c) S. Lafiteau, le Beau, Carver u. a.
d) Baldeus, Dow, Sonnerat, Holwell u. f.
Jdeen, II. Th. U

Der Schaͤfer ſiehet die Natur mit andern Augen an als der
Fiſcher und Jaͤger: und in jedem Erdſtrich ſind auch dieſe
Gewerbe wiederum, wie die Charaktere der Nationen, ver-
ſchieden. Mich wunderte z. B. in der Mythologie der ſo
noͤrdlichen Kamtſchadalen eine freche Luͤſternheit zu bemerken,
die man eher bei einer ſuͤdlichen Nation ſuchen ſollte; ihr
Klima indeſſen und ihr genetiſcher Charakter geben auch uͤber
dieſe Anomalie Aufſchlußa). Jhr kaltes Land hat Feuer-
ſpeiende Berge und heiße Quellen: ſtarrende Kaͤlte und ko-
chende Glut ſind im Streit daſelbſt; ihre luͤſterne Sitten,
wie ihre grobe mythologiſche Poſſen ſind ein natuͤrliches Pro-
duct von beiden. Ein Gleiches iſts mit jenen Maͤhrchen der
ſchwatzhaften, brauſenden Neger, die weder Anfang noch En-
de habenb): ein Gleiches mit der zuſammengedruͤckten, veſten
Mythologie der Nord-Amerikanerc); ein Gleiches mit der
Blumenphantaſie der Jndierd), die, wie ſie ſelbſt, die wohl-
luͤſtige Ruhe des Paradieſes hauchet. Jhre Goͤtter baden
in Milch- und Zuckerſeen: ihre Goͤttinnen wohnen auf kuͤh-
lenden Teichen im Kelch ſuͤßduftender Blumen. Kurz, die

Mytho-
a) S. Steller, Kraſcheninikow u. f.
b) S. Roͤmer, Boßmann, Muͤller, Oldendorp u. f.
c) S. Lafiteau, le Beau, Carver u. a.
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[153/0165] Der Schaͤfer ſiehet die Natur mit andern Augen an als der Fiſcher und Jaͤger: und in jedem Erdſtrich ſind auch dieſe Gewerbe wiederum, wie die Charaktere der Nationen, ver- ſchieden. Mich wunderte z. B. in der Mythologie der ſo noͤrdlichen Kamtſchadalen eine freche Luͤſternheit zu bemerken, die man eher bei einer ſuͤdlichen Nation ſuchen ſollte; ihr Klima indeſſen und ihr genetiſcher Charakter geben auch uͤber dieſe Anomalie Aufſchluß a). Jhr kaltes Land hat Feuer- ſpeiende Berge und heiße Quellen: ſtarrende Kaͤlte und ko- chende Glut ſind im Streit daſelbſt; ihre luͤſterne Sitten, wie ihre grobe mythologiſche Poſſen ſind ein natuͤrliches Pro- duct von beiden. Ein Gleiches iſts mit jenen Maͤhrchen der ſchwatzhaften, brauſenden Neger, die weder Anfang noch En- de haben b): ein Gleiches mit der zuſammengedruͤckten, veſten Mythologie der Nord-Amerikaner c); ein Gleiches mit der Blumenphantaſie der Jndier d), die, wie ſie ſelbſt, die wohl- luͤſtige Ruhe des Paradieſes hauchet. Jhre Goͤtter baden in Milch- und Zuckerſeen: ihre Goͤttinnen wohnen auf kuͤh- lenden Teichen im Kelch ſuͤßduftender Blumen. Kurz, die Mytho- a) S. Steller, Kraſcheninikow u. f. b) S. Roͤmer, Boßmann, Muͤller, Oldendorp u. f. c) S. Lafiteau, le Beau, Carver u. a. d) Baldeus, Dow, Sonnerat, Holwell u. f. Jdeen, II. Th. U

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/165>, abgerufen am 28.04.2024.