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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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misbrauchte und sich des ganzen noch ungebändigten Oceans
menschlicher Phantasieen und Träume zu seiner Absicht
bediente.

Großer Geist der Erde, mit welchem Blick überschauest
du alle Schattengestalten und Träume, die sich auf unsrer
runden Kugel jagen: denn Schatten sind wir und unsre Phan-
tasie dichtet nur Schattenträume. So wenig wir in reiner
Luft zu athmen vermögen: so wenig kann sich unsrer zusam-
mengesetzten, aus Staub gebildeten Hülle jetzt noch die reine
Vernunft ganz mittheilen. Jndessen auch in allen Jrrgän-
gen der Einbildungskraft wird das Menschengeschlecht zu ihr
erzogen; es hangt an Bildern, weil diese ihm Eindruck von
Sachen geben, es sieht und suchet auch im dicksten Nebel
Stralen der Wahrheit. Glücklich und auserwählt ist der
Mensch, der in seinem engebeschränkten Leben, so weit er kann,
von Phantasieen zum Wesen d. i. aus der Kindheit zum Mann
erwächst und auch in dieser Absicht die Geschichte seiner Brü-
der mit reinem Geist durchwandert. Edle Ausbreitung giebt
es der Seele, wenn sie sich aus dem engen Kreise, den Klima
und Erziehung um uns gezogen, herauszusetzen wagt und un-
ter andern Nationen wenigstens lernt, was man entbehren
möge. Wie manches findet man da entbehrt und entbehrlich,
was man lange für wesentlich hielt! Vorstellungen, die wir

oft
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misbrauchte und ſich des ganzen noch ungebaͤndigten Oceans
menſchlicher Phantaſieen und Traͤume zu ſeiner Abſicht
bediente.

Großer Geiſt der Erde, mit welchem Blick uͤberſchaueſt
du alle Schattengeſtalten und Traͤume, die ſich auf unſrer
runden Kugel jagen: denn Schatten ſind wir und unſre Phan-
taſie dichtet nur Schattentraͤume. So wenig wir in reiner
Luft zu athmen vermoͤgen: ſo wenig kann ſich unſrer zuſam-
mengeſetzten, aus Staub gebildeten Huͤlle jetzt noch die reine
Vernunft ganz mittheilen. Jndeſſen auch in allen Jrrgaͤn-
gen der Einbildungskraft wird das Menſchengeſchlecht zu ihr
erzogen; es hangt an Bildern, weil dieſe ihm Eindruck von
Sachen geben, es ſieht und ſuchet auch im dickſten Nebel
Stralen der Wahrheit. Gluͤcklich und auserwaͤhlt iſt der
Menſch, der in ſeinem engebeſchraͤnkten Leben, ſo weit er kann,
von Phantaſieen zum Weſen d. i. aus der Kindheit zum Mann
erwaͤchſt und auch in dieſer Abſicht die Geſchichte ſeiner Bruͤ-
der mit reinem Geiſt durchwandert. Edle Ausbreitung giebt
es der Seele, wenn ſie ſich aus dem engen Kreiſe, den Klima
und Erziehung um uns gezogen, herauszuſetzen wagt und un-
ter andern Nationen wenigſtens lernt, was man entbehren
moͤge. Wie manches findet man da entbehrt und entbehrlich,
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[157/0169] misbrauchte und ſich des ganzen noch ungebaͤndigten Oceans menſchlicher Phantaſieen und Traͤume zu ſeiner Abſicht bediente. Großer Geiſt der Erde, mit welchem Blick uͤberſchaueſt du alle Schattengeſtalten und Traͤume, die ſich auf unſrer runden Kugel jagen: denn Schatten ſind wir und unſre Phan- taſie dichtet nur Schattentraͤume. So wenig wir in reiner Luft zu athmen vermoͤgen: ſo wenig kann ſich unſrer zuſam- mengeſetzten, aus Staub gebildeten Huͤlle jetzt noch die reine Vernunft ganz mittheilen. Jndeſſen auch in allen Jrrgaͤn- gen der Einbildungskraft wird das Menſchengeſchlecht zu ihr erzogen; es hangt an Bildern, weil dieſe ihm Eindruck von Sachen geben, es ſieht und ſuchet auch im dickſten Nebel Stralen der Wahrheit. Gluͤcklich und auserwaͤhlt iſt der Menſch, der in ſeinem engebeſchraͤnkten Leben, ſo weit er kann, von Phantaſieen zum Weſen d. i. aus der Kindheit zum Mann erwaͤchſt und auch in dieſer Abſicht die Geſchichte ſeiner Bruͤ- der mit reinem Geiſt durchwandert. Edle Ausbreitung giebt es der Seele, wenn ſie ſich aus dem engen Kreiſe, den Klima und Erziehung um uns gezogen, herauszuſetzen wagt und un- ter andern Nationen wenigſtens lernt, was man entbehren moͤge. Wie manches findet man da entbehrt und entbehrlich, was man lange fuͤr weſentlich hielt! Vorſtellungen, die wir oft U 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/169>, abgerufen am 28.04.2024.