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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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unser Auge kaum erreicht. Jener Fischer treibt sein Werk
mit einer Kunst, als ob er die Fische beschwüre: dieser Samo-
jede begegnet dem weißen Bär und nimmts mit ihm auf: je-
nem Neger sind zwei Löwen nicht zu viel, wenn er Stärke und
List verbindet. Der Hottentotte geht aufs Nasehorn und Fluß-
pferd los: der Bewohner der Kanarieninseln gleitet auf den
steilsten Felsen umher, die er wie ein Gems bespringet: die
starke, männliche Tibetanerin trägt den Fremden über die un-
geheuersten Berge der Erde. Das Geschlecht des Prome-
theus, das aus den Theilen und Trieben aller Thiere zusam-
mengesetzt ward, hat diese auch allesammt, das Eine hie, das
andre dort, an Künsten und Geschicklichkeiten überwunden
nachdem es diese alle von ihnen gelernet.

Daß die meisten Künste der Menschen von Thieren und
der Natur gelernt sind, ist außer Zweifel. Warum kleidet sich
der Mariane in Baumhüllen und der Amerikaner und Papu
schmücket sich mit Federn? Weil jener mit Bäumen lebt und
von ihnen seine Nahrung holt; dem Amerikaner und Papu
sind die bunten Vögel seines Landes das Schönste, das er
siehet. Der Jäger kleidet sich wie sein Wild und bauet wie
sein Biber; andre Völker hangen wie Vögel auf den Bäu-
men oder machen sich auf der Erde ihre Hütten wie Nester.
Der Schnabel des Vogels war dem Menschen das Vorbild

zu
X 2

unſer Auge kaum erreicht. Jener Fiſcher treibt ſein Werk
mit einer Kunſt, als ob er die Fiſche beſchwuͤre: dieſer Samo-
jede begegnet dem weißen Baͤr und nimmts mit ihm auf: je-
nem Neger ſind zwei Loͤwen nicht zu viel, wenn er Staͤrke und
Liſt verbindet. Der Hottentotte geht aufs Naſehorn und Fluß-
pferd los: der Bewohner der Kanarieninſeln gleitet auf den
ſteilſten Felſen umher, die er wie ein Gems beſpringet: die
ſtarke, maͤnnliche Tibetanerin traͤgt den Fremden uͤber die un-
geheuerſten Berge der Erde. Das Geſchlecht des Prome-
theus, das aus den Theilen und Trieben aller Thiere zuſam-
mengeſetzt ward, hat dieſe auch alleſammt, das Eine hie, das
andre dort, an Kuͤnſten und Geſchicklichkeiten uͤberwunden
nachdem es dieſe alle von ihnen gelernet.

Daß die meiſten Kuͤnſte der Menſchen von Thieren und
der Natur gelernt ſind, iſt außer Zweifel. Warum kleidet ſich
der Mariane in Baumhuͤllen und der Amerikaner und Papu
ſchmuͤcket ſich mit Federn? Weil jener mit Baͤumen lebt und
von ihnen ſeine Nahrung holt; dem Amerikaner und Papu
ſind die bunten Voͤgel ſeines Landes das Schoͤnſte, das er
ſiehet. Der Jaͤger kleidet ſich wie ſein Wild und bauet wie
ſein Biber; andre Voͤlker hangen wie Voͤgel auf den Baͤu-
men oder machen ſich auf der Erde ihre Huͤtten wie Neſter.
Der Schnabel des Vogels war dem Menſchen das Vorbild

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[163/0175] unſer Auge kaum erreicht. Jener Fiſcher treibt ſein Werk mit einer Kunſt, als ob er die Fiſche beſchwuͤre: dieſer Samo- jede begegnet dem weißen Baͤr und nimmts mit ihm auf: je- nem Neger ſind zwei Loͤwen nicht zu viel, wenn er Staͤrke und Liſt verbindet. Der Hottentotte geht aufs Naſehorn und Fluß- pferd los: der Bewohner der Kanarieninſeln gleitet auf den ſteilſten Felſen umher, die er wie ein Gems beſpringet: die ſtarke, maͤnnliche Tibetanerin traͤgt den Fremden uͤber die un- geheuerſten Berge der Erde. Das Geſchlecht des Prome- theus, das aus den Theilen und Trieben aller Thiere zuſam- mengeſetzt ward, hat dieſe auch alleſammt, das Eine hie, das andre dort, an Kuͤnſten und Geſchicklichkeiten uͤberwunden nachdem es dieſe alle von ihnen gelernet. Daß die meiſten Kuͤnſte der Menſchen von Thieren und der Natur gelernt ſind, iſt außer Zweifel. Warum kleidet ſich der Mariane in Baumhuͤllen und der Amerikaner und Papu ſchmuͤcket ſich mit Federn? Weil jener mit Baͤumen lebt und von ihnen ſeine Nahrung holt; dem Amerikaner und Papu ſind die bunten Voͤgel ſeines Landes das Schoͤnſte, das er ſiehet. Der Jaͤger kleidet ſich wie ſein Wild und bauet wie ſein Biber; andre Voͤlker hangen wie Voͤgel auf den Baͤu- men oder machen ſich auf der Erde ihre Huͤtten wie Neſter. Der Schnabel des Vogels war dem Menſchen das Vorbild zu X 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/175>, abgerufen am 29.04.2024.