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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Blutes an und freut sich, ihn hinterm Grabe mit demselben
wieder zu finden. Mit unauslöschlicher Flamme brennet die-
ser, den Schatten seines Freundes zu versöhnen, ihn aus dem
Gefängniß zu befreien, ihm beizustehen im Streit und das
Glück des Ruhms mit ihm zu theilen. Ein gemeinschaftli-
cher Stamm kleiner Völker ist nichts als ein also verbündeter
Chor von Blutsfreunden, die sich von andern Geschlechtern
in Haß oder in Liebe scheiden. So sind die Arabischen, so
sind manche Tatarische Stämme und die meisten Amerikani-
schen Völker. Die blutigsten Kriege zwischen ihnen, die eine
Schande der Menschheit scheinen, entsprangen zuerst aus dem
edelsten Gefühl derselben, dem Gefühl der beleidigten Stam-
mesehre oder einer gekränkten Stammes-Freundschaft.

Weiterhin und auf die verschiednen Regierungsformen
weiblicher oder männlicher Regenten der Erde lasse ich mich
jetzt und hier noch nicht ein. Denn da aus den bisher ange-
zeigten Gründen es sich noch nicht erklären läßt: warum Ein
Mensch durchs Recht der Geburt über tausende seiner Brüder
herrsche? warum er ihnen ohne Vertrag und Einschränkung
nach Willkühr gebieten, tausende derselben ohne Verantwor-
tung in den Tod liefern, die Schätze des Staats ohne Re-
chenschaft verzehren und gerade dem Armen darüber die be-
drückendsten Auflagen thun dörfe? da es sich noch weniger

aus

Blutes an und freut ſich, ihn hinterm Grabe mit demſelben
wieder zu finden. Mit unausloͤſchlicher Flamme brennet die-
ſer, den Schatten ſeines Freundes zu verſoͤhnen, ihn aus dem
Gefaͤngniß zu befreien, ihm beizuſtehen im Streit und das
Gluͤck des Ruhms mit ihm zu theilen. Ein gemeinſchaftli-
cher Stamm kleiner Voͤlker iſt nichts als ein alſo verbuͤndeter
Chor von Blutsfreunden, die ſich von andern Geſchlechtern
in Haß oder in Liebe ſcheiden. So ſind die Arabiſchen, ſo
ſind manche Tatariſche Staͤmme und die meiſten Amerikani-
ſchen Voͤlker. Die blutigſten Kriege zwiſchen ihnen, die eine
Schande der Menſchheit ſcheinen, entſprangen zuerſt aus dem
edelſten Gefuͤhl derſelben, dem Gefuͤhl der beleidigten Stam-
mesehre oder einer gekraͤnkten Stammes-Freundſchaft.

Weiterhin und auf die verſchiednen Regierungsformen
weiblicher oder maͤnnlicher Regenten der Erde laſſe ich mich
jetzt und hier noch nicht ein. Denn da aus den bisher ange-
zeigten Gruͤnden es ſich noch nicht erklaͤren laͤßt: warum Ein
Menſch durchs Recht der Geburt uͤber tauſende ſeiner Bruͤder
herrſche? warum er ihnen ohne Vertrag und Einſchraͤnkung
nach Willkuͤhr gebieten, tauſende derſelben ohne Verantwor-
tung in den Tod liefern, die Schaͤtze des Staats ohne Re-
chenſchaft verzehren und gerade dem Armen daruͤber die be-
druͤckendſten Auflagen thun doͤrfe? da es ſich noch weniger

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[192/0204] Blutes an und freut ſich, ihn hinterm Grabe mit demſelben wieder zu finden. Mit unausloͤſchlicher Flamme brennet die- ſer, den Schatten ſeines Freundes zu verſoͤhnen, ihn aus dem Gefaͤngniß zu befreien, ihm beizuſtehen im Streit und das Gluͤck des Ruhms mit ihm zu theilen. Ein gemeinſchaftli- cher Stamm kleiner Voͤlker iſt nichts als ein alſo verbuͤndeter Chor von Blutsfreunden, die ſich von andern Geſchlechtern in Haß oder in Liebe ſcheiden. So ſind die Arabiſchen, ſo ſind manche Tatariſche Staͤmme und die meiſten Amerikani- ſchen Voͤlker. Die blutigſten Kriege zwiſchen ihnen, die eine Schande der Menſchheit ſcheinen, entſprangen zuerſt aus dem edelſten Gefuͤhl derſelben, dem Gefuͤhl der beleidigten Stam- mesehre oder einer gekraͤnkten Stammes-Freundſchaft. Weiterhin und auf die verſchiednen Regierungsformen weiblicher oder maͤnnlicher Regenten der Erde laſſe ich mich jetzt und hier noch nicht ein. Denn da aus den bisher ange- zeigten Gruͤnden es ſich noch nicht erklaͤren laͤßt: warum Ein Menſch durchs Recht der Geburt uͤber tauſende ſeiner Bruͤder herrſche? warum er ihnen ohne Vertrag und Einſchraͤnkung nach Willkuͤhr gebieten, tauſende derſelben ohne Verantwor- tung in den Tod liefern, die Schaͤtze des Staats ohne Re- chenſchaft verzehren und gerade dem Armen daruͤber die be- druͤckendſten Auflagen thun doͤrfe? da es ſich noch weniger aus

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/204>, abgerufen am 29.04.2024.