Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

selligkeit und bildenden Tradition vom Ersten bis zum
letzten Gliede.

Es giebt also eine Erziehung des Menschengeschlechts;
eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird
und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von
Jndividuen lebet. Freilich wenn jemand sagte, daß nicht der
einzelne Mensch sondern das Geschlecht erzogen werde, so
spräche er für mich unverständlich, da Geschlecht und Gattung
nur allgemeine Begriffe sind, außer sofern sie in einzelnen
Wesen exsistiren. Gäbe ich diesem allgemeinen Begrif nun
auch alle Vollkommenheiten der Humanität, Cultur und höch-
sten Aufklärung, die ein idealischer Begrif gestattet: so hätte
ich zur wahren Geschichte unsres Geschlechts eben so viel ge-
sagt, als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit, der Me-
tallheit im Allgemeinen spräche und sie mit den herrlichsten,
aber in einzelnen Jndividuen einander widersprechenden Attri-
buten auszierte. Auf diesem Wege der Averroischen Phi-
losophie, nach der das ganze Menschengeschlecht nur Eine und
zwar eine sehr niedrige Seele besitzet, die sich dem einzelnen
Menschen nur Theilweise mittheilet, auf ihm soll unsre Phi-
losophie der Geschichte nicht wandern. Schränkte ich aber
gegenseits beim Menschen, alles auf Jndividuen ein und läug-
nete die Kette ihres Zusammenhanges sowohl unter einander

als

ſelligkeit und bildenden Tradition vom Erſten bis zum
letzten Gliede.

Es giebt alſo eine Erziehung des Menſchengeſchlechts;
eben weil jeder Menſch nur durch Erziehung ein Menſch wird
und das ganze Geſchlecht nicht anders als in dieſer Kette von
Jndividuen lebet. Freilich wenn jemand ſagte, daß nicht der
einzelne Menſch ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo
ſpraͤche er fuͤr mich unverſtaͤndlich, da Geſchlecht und Gattung
nur allgemeine Begriffe ſind, außer ſofern ſie in einzelnen
Weſen exſiſtiren. Gaͤbe ich dieſem allgemeinen Begrif nun
auch alle Vollkommenheiten der Humanitaͤt, Cultur und hoͤch-
ſten Aufklaͤrung, die ein idealiſcher Begrif geſtattet: ſo haͤtte
ich zur wahren Geſchichte unſres Geſchlechts eben ſo viel ge-
ſagt, als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit, der Me-
tallheit im Allgemeinen ſpraͤche und ſie mit den herrlichſten,
aber in einzelnen Jndividuen einander widerſprechenden Attri-
buten auszierte. Auf dieſem Wege der Averroiſchen Phi-
loſophie, nach der das ganze Menſchengeſchlecht nur Eine und
zwar eine ſehr niedrige Seele beſitzet, die ſich dem einzelnen
Menſchen nur Theilweiſe mittheilet, auf ihm ſoll unſre Phi-
loſophie der Geſchichte nicht wandern. Schraͤnkte ich aber
gegenſeits beim Menſchen, alles auf Jndividuen ein und laͤug-
nete die Kette ihres Zuſammenhanges ſowohl unter einander

als
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0224" n="212"/>
&#x017F;elligkeit und bildenden Tradition vom Er&#x017F;ten bis zum<lb/>
letzten Gliede.</p><lb/>
          <p>Es giebt al&#x017F;o eine Erziehung des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts;<lb/>
eben weil jeder Men&#x017F;ch nur durch Erziehung ein Men&#x017F;ch wird<lb/>
und das ganze Ge&#x017F;chlecht nicht anders als in die&#x017F;er Kette von<lb/>
Jndividuen lebet. Freilich wenn jemand &#x017F;agte, daß nicht der<lb/>
einzelne Men&#x017F;ch &#x017F;ondern das Ge&#x017F;chlecht erzogen werde, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;pra&#x0364;che er fu&#x0364;r mich unver&#x017F;ta&#x0364;ndlich, da Ge&#x017F;chlecht und Gattung<lb/>
nur allgemeine Begriffe &#x017F;ind, außer &#x017F;ofern &#x017F;ie in einzelnen<lb/>
We&#x017F;en ex&#x017F;i&#x017F;tiren. Ga&#x0364;be ich die&#x017F;em allgemeinen Begrif nun<lb/>
auch alle Vollkommenheiten der Humanita&#x0364;t, Cultur und ho&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten Aufkla&#x0364;rung, die ein ideali&#x017F;cher Begrif ge&#x017F;tattet: &#x017F;o ha&#x0364;tte<lb/>
ich zur wahren Ge&#x017F;chichte un&#x017F;res Ge&#x017F;chlechts eben &#x017F;o viel ge-<lb/>
&#x017F;agt, als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit, der Me-<lb/>
tallheit im Allgemeinen &#x017F;pra&#x0364;che und &#x017F;ie mit den herrlich&#x017F;ten,<lb/>
aber in einzelnen Jndividuen einander wider&#x017F;prechenden Attri-<lb/>
buten auszierte. Auf die&#x017F;em Wege der <hi rendition="#fr">Averroi&#x017F;chen</hi> Phi-<lb/>
lo&#x017F;ophie, nach der das ganze Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht nur Eine und<lb/>
zwar eine &#x017F;ehr niedrige Seele be&#x017F;itzet, die &#x017F;ich dem einzelnen<lb/>
Men&#x017F;chen nur Theilwei&#x017F;e mittheilet, auf ihm &#x017F;oll un&#x017F;re Phi-<lb/>
lo&#x017F;ophie der Ge&#x017F;chichte nicht wandern. Schra&#x0364;nkte ich aber<lb/>
gegen&#x017F;eits beim Men&#x017F;chen, alles auf Jndividuen ein und la&#x0364;ug-<lb/>
nete die Kette ihres Zu&#x017F;ammenhanges &#x017F;owohl unter einander<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">als</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[212/0224] ſelligkeit und bildenden Tradition vom Erſten bis zum letzten Gliede. Es giebt alſo eine Erziehung des Menſchengeſchlechts; eben weil jeder Menſch nur durch Erziehung ein Menſch wird und das ganze Geſchlecht nicht anders als in dieſer Kette von Jndividuen lebet. Freilich wenn jemand ſagte, daß nicht der einzelne Menſch ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo ſpraͤche er fuͤr mich unverſtaͤndlich, da Geſchlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe ſind, außer ſofern ſie in einzelnen Weſen exſiſtiren. Gaͤbe ich dieſem allgemeinen Begrif nun auch alle Vollkommenheiten der Humanitaͤt, Cultur und hoͤch- ſten Aufklaͤrung, die ein idealiſcher Begrif geſtattet: ſo haͤtte ich zur wahren Geſchichte unſres Geſchlechts eben ſo viel ge- ſagt, als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit, der Me- tallheit im Allgemeinen ſpraͤche und ſie mit den herrlichſten, aber in einzelnen Jndividuen einander widerſprechenden Attri- buten auszierte. Auf dieſem Wege der Averroiſchen Phi- loſophie, nach der das ganze Menſchengeſchlecht nur Eine und zwar eine ſehr niedrige Seele beſitzet, die ſich dem einzelnen Menſchen nur Theilweiſe mittheilet, auf ihm ſoll unſre Phi- loſophie der Geſchichte nicht wandern. Schraͤnkte ich aber gegenſeits beim Menſchen, alles auf Jndividuen ein und laͤug- nete die Kette ihres Zuſammenhanges ſowohl unter einander als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/224
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/224>, abgerufen am 29.04.2024.