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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Zweitens. So sehr es dem Menschen schmeichelt, daß
ihn die Gottheit zu ihrem Gehülfen angenommen und seine
Bildung hienieden ihm selbst und seinesgleichen überlassen habe:
so zeigt doch eben dies von der Gottheit erwählte Mittel die
Unvollkommenheit unsres irrdischen Daseyns, indem wir ei-
gentlich Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden.
Was ists für ein armes Geschöpf, das nichts aus sich selbst
hat, das alles durch Vorbild, Lehre, Uebung bekommt und wie
ein Wachs, darnach Gestalten annimmt! Man sehe, wenn
man auf seine Vernunft stolz ist, den Spielraum seiner Mit-
brüder an auf der weiten Erde oder höre ihre vieltönige dis-
sonante Geschichte. Welche Unmenschlichkeit gäbe es, zu der
sich nicht ein Mensch, eine Nation, ja oft eine Reihe von Na-
tionen gewöhnen konnte, sogar daß ihrer viele und vielleicht
die meisten das Fleisch ihrer Mitbrüder fraßen. Welche thö-
richte Einbildung wäre denkbar, die die erbliche Tradition nicht
hie oder da wirklich geheiligt hätte? Niedriger also kann kein
vernünftiges Geschöpf stehen, als der Mensch steht: denn er
ist Lebenslang nicht nur ein Kind an Vernunft, sondern sogar
ein Zögling der Vernunft andrer. Jn welche Hände er fällt;
darnach wird er gestaltet und ich glaube nicht, daß irgend eine
Form der menschlichen Sitte möglich sei, in der nicht ein Volk
oder ein Jndividuum desselben exsistirt oder exsistirt habe. Alle
Laster und Gräuelthaten erschöpfen sich in der Geschichte bis

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Zweitens. So ſehr es dem Menſchen ſchmeichelt, daß
ihn die Gottheit zu ihrem Gehuͤlfen angenommen und ſeine
Bildung hienieden ihm ſelbſt und ſeinesgleichen uͤberlaſſen habe:
ſo zeigt doch eben dies von der Gottheit erwaͤhlte Mittel die
Unvollkommenheit unſres irrdiſchen Daſeyns, indem wir ei-
gentlich Menſchen noch nicht ſind, ſondern taͤglich werden.
Was iſts fuͤr ein armes Geſchoͤpf, das nichts aus ſich ſelbſt
hat, das alles durch Vorbild, Lehre, Uebung bekommt und wie
ein Wachs, darnach Geſtalten annimmt! Man ſehe, wenn
man auf ſeine Vernunft ſtolz iſt, den Spielraum ſeiner Mit-
bruͤder an auf der weiten Erde oder hoͤre ihre vieltoͤnige diſ-
ſonante Geſchichte. Welche Unmenſchlichkeit gaͤbe es, zu der
ſich nicht ein Menſch, eine Nation, ja oft eine Reihe von Na-
tionen gewoͤhnen konnte, ſogar daß ihrer viele und vielleicht
die meiſten das Fleiſch ihrer Mitbruͤder fraßen. Welche thoͤ-
richte Einbildung waͤre denkbar, die die erbliche Tradition nicht
hie oder da wirklich geheiligt haͤtte? Niedriger alſo kann kein
vernuͤnftiges Geſchoͤpf ſtehen, als der Menſch ſteht: denn er
iſt Lebenslang nicht nur ein Kind an Vernunft, ſondern ſogar
ein Zoͤgling der Vernunft andrer. Jn welche Haͤnde er faͤllt;
darnach wird er geſtaltet und ich glaube nicht, daß irgend eine
Form der menſchlichen Sitte moͤglich ſei, in der nicht ein Volk
oder ein Jndividuum deſſelben exſiſtirt oder exſiſtirt habe. Alle
Laſter und Graͤuelthaten erſchoͤpfen ſich in der Geſchichte bis

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[219/0231] Zweitens. So ſehr es dem Menſchen ſchmeichelt, daß ihn die Gottheit zu ihrem Gehuͤlfen angenommen und ſeine Bildung hienieden ihm ſelbſt und ſeinesgleichen uͤberlaſſen habe: ſo zeigt doch eben dies von der Gottheit erwaͤhlte Mittel die Unvollkommenheit unſres irrdiſchen Daſeyns, indem wir ei- gentlich Menſchen noch nicht ſind, ſondern taͤglich werden. Was iſts fuͤr ein armes Geſchoͤpf, das nichts aus ſich ſelbſt hat, das alles durch Vorbild, Lehre, Uebung bekommt und wie ein Wachs, darnach Geſtalten annimmt! Man ſehe, wenn man auf ſeine Vernunft ſtolz iſt, den Spielraum ſeiner Mit- bruͤder an auf der weiten Erde oder hoͤre ihre vieltoͤnige diſ- ſonante Geſchichte. Welche Unmenſchlichkeit gaͤbe es, zu der ſich nicht ein Menſch, eine Nation, ja oft eine Reihe von Na- tionen gewoͤhnen konnte, ſogar daß ihrer viele und vielleicht die meiſten das Fleiſch ihrer Mitbruͤder fraßen. Welche thoͤ- richte Einbildung waͤre denkbar, die die erbliche Tradition nicht hie oder da wirklich geheiligt haͤtte? Niedriger alſo kann kein vernuͤnftiges Geſchoͤpf ſtehen, als der Menſch ſteht: denn er iſt Lebenslang nicht nur ein Kind an Vernunft, ſondern ſogar ein Zoͤgling der Vernunft andrer. Jn welche Haͤnde er faͤllt; darnach wird er geſtaltet und ich glaube nicht, daß irgend eine Form der menſchlichen Sitte moͤglich ſei, in der nicht ein Volk oder ein Jndividuum deſſelben exſiſtirt oder exſiſtirt habe. Alle Laſter und Graͤuelthaten erſchoͤpfen ſich in der Geſchichte bis end- E e 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/231>, abgerufen am 29.04.2024.