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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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V.
Religion ist die ältste und heiligste Tradition
der Erde.


Müde und matt von allen Veränderungen des Erdenrundes
nach Gegenden, Zeiten und Völkern, finden wir denn nichts
auf demselben, das der gemeinschaftliche Besitz und Vorzug
unsres Brudergeschlechts sei? Nichts als die Anlage zur Ver-
nunft, Humanität und Religion
der drei Grazien des mensch-
lichen Lebens. Alle Staaten entstanden spät und noch später
entstanden in ihnen Wissenschaften und Künste; aber Fami-
lien sind das ewige Werk der Natur, die fortgehende Haus-
haltung, in der sie den Samen der Humanität dem Menschen-
geschlecht einpflanzet und selbst erziehet. Sprachen wechseln
mit jedem Volk in jedem Klima; in allen Sprachen aber ist
Ein' und dieselbe Merkmal-suchende Menschenvernunft kenn-
bar. Religion endlich, so verschieden ihre Hülle sei; auch un-
ter dem ärmsten, rohesten Volk am Rande der Erde finden
sich ihre Spuren. Der Grönländer und Kamtschadale, der
Feuerländer und Papu hat Aeußerungen von ihr, wie seine
Sagen oder Gebräuche zeigen; ja gäbe es unter den Anziken
oder den verdrängten Waldmenschen der Jndischen Jnseln

irgend
Jdeen, II. Th. L l
V.
Religion iſt die aͤltſte und heiligſte Tradition
der Erde.


Muͤde und matt von allen Veraͤnderungen des Erdenrundes
nach Gegenden, Zeiten und Voͤlkern, finden wir denn nichts
auf demſelben, das der gemeinſchaftliche Beſitz und Vorzug
unſres Brudergeſchlechts ſei? Nichts als die Anlage zur Ver-
nunft, Humanitaͤt und Religion
der drei Grazien des menſch-
lichen Lebens. Alle Staaten entſtanden ſpaͤt und noch ſpaͤter
entſtanden in ihnen Wiſſenſchaften und Kuͤnſte; aber Fami-
lien ſind das ewige Werk der Natur, die fortgehende Haus-
haltung, in der ſie den Samen der Humanitaͤt dem Menſchen-
geſchlecht einpflanzet und ſelbſt erziehet. Sprachen wechſeln
mit jedem Volk in jedem Klima; in allen Sprachen aber iſt
Ein' und dieſelbe Merkmal-ſuchende Menſchenvernunft kenn-
bar. Religion endlich, ſo verſchieden ihre Huͤlle ſei; auch un-
ter dem aͤrmſten, roheſten Volk am Rande der Erde finden
ſich ihre Spuren. Der Groͤnlaͤnder und Kamtſchadale, der
Feuerlaͤnder und Papu hat Aeußerungen von ihr, wie ſeine
Sagen oder Gebraͤuche zeigen; ja gaͤbe es unter den Anziken
oder den verdraͤngten Waldmenſchen der Jndiſchen Jnſeln

irgend
Jdeen, II. Th. L l
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[265/0277] V. Religion iſt die aͤltſte und heiligſte Tradition der Erde. Muͤde und matt von allen Veraͤnderungen des Erdenrundes nach Gegenden, Zeiten und Voͤlkern, finden wir denn nichts auf demſelben, das der gemeinſchaftliche Beſitz und Vorzug unſres Brudergeſchlechts ſei? Nichts als die Anlage zur Ver- nunft, Humanitaͤt und Religion der drei Grazien des menſch- lichen Lebens. Alle Staaten entſtanden ſpaͤt und noch ſpaͤter entſtanden in ihnen Wiſſenſchaften und Kuͤnſte; aber Fami- lien ſind das ewige Werk der Natur, die fortgehende Haus- haltung, in der ſie den Samen der Humanitaͤt dem Menſchen- geſchlecht einpflanzet und ſelbſt erziehet. Sprachen wechſeln mit jedem Volk in jedem Klima; in allen Sprachen aber iſt Ein' und dieſelbe Merkmal-ſuchende Menſchenvernunft kenn- bar. Religion endlich, ſo verſchieden ihre Huͤlle ſei; auch un- ter dem aͤrmſten, roheſten Volk am Rande der Erde finden ſich ihre Spuren. Der Groͤnlaͤnder und Kamtſchadale, der Feuerlaͤnder und Papu hat Aeußerungen von ihr, wie ſeine Sagen oder Gebraͤuche zeigen; ja gaͤbe es unter den Anziken oder den verdraͤngten Waldmenſchen der Jndiſchen Jnſeln irgend Jdeen, II. Th. L l

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/277>, abgerufen am 13.05.2024.