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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Verfassung und ohngeachtet das unkriegerische Volk von Ta-
tarischen Horden mehrmals überschwemmt worden: so haben
die Besiegten dennoch immer die Sieger bezähmt und sie in die
Fesseln ihrer alten Verfassung geschmiedet; welche Regierungs-
form Europens könnte sich dessen rühmen? Auf den Tibetani-
schen Bergen herrscht die älteste Hierokratie der Erde und die
Casten der Hindus verrathen durch die eingewurzelte Macht,
die dem sanftesten Volk seit Jahrtausenden zur Natur gewor-
den ist, ihre uralte Einrichtung. Am Euphrat und Tigris,
so wie am Nilstrom und an den Medischen Bergen greifen
schon in den ältesten Zeiten gebildete kriegerische oder friedliche
Monarchieen in die Geschichte der westlichen Völker: sogar
auf den Tatarischen Höhen hat sich die ungebundne Freiheit
der Horden mit einem Despotismus der Khane zusammenge-
webt, der manchen europäischen Regierungsformen die Grund-
anlage gegeben. Von allen Seiten der Welt, je mehr man
sich Asien nahet, desto mehr nahet man festgegründeten Rei-
chen, deren unumschränkte Gewalt seit Jahrtausenden sich in
die Denkart der Völker so eingeprägt, daß der König von Siam
über eine Nation, die keinen König hätte, als über eine Haupt-
lose Misgeburt lachte. Jn Afrika sind die vestesten Despo-
tien Asien nahe; je weiter hinab, desto mehr ist die Tyrannei
noch im rohen Zustande, bis sie sich endlich unter den Kaffern
in den patriarchalischen Hirtenzustand verlieret. Auf dem süd-

lichen

Verfaſſung und ohngeachtet das unkriegeriſche Volk von Ta-
tariſchen Horden mehrmals uͤberſchwemmt worden: ſo haben
die Beſiegten dennoch immer die Sieger bezaͤhmt und ſie in die
Feſſeln ihrer alten Verfaſſung geſchmiedet; welche Regierungs-
form Europens koͤnnte ſich deſſen ruͤhmen? Auf den Tibetani-
ſchen Bergen herrſcht die aͤlteſte Hierokratie der Erde und die
Caſten der Hindus verrathen durch die eingewurzelte Macht,
die dem ſanfteſten Volk ſeit Jahrtauſenden zur Natur gewor-
den iſt, ihre uralte Einrichtung. Am Euphrat und Tigris,
ſo wie am Nilſtrom und an den Mediſchen Bergen greifen
ſchon in den aͤlteſten Zeiten gebildete kriegeriſche oder friedliche
Monarchieen in die Geſchichte der weſtlichen Voͤlker: ſogar
auf den Tatariſchen Hoͤhen hat ſich die ungebundne Freiheit
der Horden mit einem Deſpotismus der Khane zuſammenge-
webt, der manchen europaͤiſchen Regierungsformen die Grund-
anlage gegeben. Von allen Seiten der Welt, je mehr man
ſich Aſien nahet, deſto mehr nahet man feſtgegruͤndeten Rei-
chen, deren unumſchraͤnkte Gewalt ſeit Jahrtauſenden ſich in
die Denkart der Voͤlker ſo eingepraͤgt, daß der Koͤnig von Siam
uͤber eine Nation, die keinen Koͤnig haͤtte, als uͤber eine Haupt-
loſe Misgeburt lachte. Jn Afrika ſind die veſteſten Deſpo-
tien Aſien nahe; je weiter hinab, deſto mehr iſt die Tyrannei
noch im rohen Zuſtande, bis ſie ſich endlich unter den Kaffern
in den patriarchaliſchen Hirtenzuſtand verlieret. Auf dem ſuͤd-

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[303/0315] Verfaſſung und ohngeachtet das unkriegeriſche Volk von Ta- tariſchen Horden mehrmals uͤberſchwemmt worden: ſo haben die Beſiegten dennoch immer die Sieger bezaͤhmt und ſie in die Feſſeln ihrer alten Verfaſſung geſchmiedet; welche Regierungs- form Europens koͤnnte ſich deſſen ruͤhmen? Auf den Tibetani- ſchen Bergen herrſcht die aͤlteſte Hierokratie der Erde und die Caſten der Hindus verrathen durch die eingewurzelte Macht, die dem ſanfteſten Volk ſeit Jahrtauſenden zur Natur gewor- den iſt, ihre uralte Einrichtung. Am Euphrat und Tigris, ſo wie am Nilſtrom und an den Mediſchen Bergen greifen ſchon in den aͤlteſten Zeiten gebildete kriegeriſche oder friedliche Monarchieen in die Geſchichte der weſtlichen Voͤlker: ſogar auf den Tatariſchen Hoͤhen hat ſich die ungebundne Freiheit der Horden mit einem Deſpotismus der Khane zuſammenge- webt, der manchen europaͤiſchen Regierungsformen die Grund- anlage gegeben. Von allen Seiten der Welt, je mehr man ſich Aſien nahet, deſto mehr nahet man feſtgegruͤndeten Rei- chen, deren unumſchraͤnkte Gewalt ſeit Jahrtauſenden ſich in die Denkart der Voͤlker ſo eingepraͤgt, daß der Koͤnig von Siam uͤber eine Nation, die keinen Koͤnig haͤtte, als uͤber eine Haupt- loſe Misgeburt lachte. Jn Afrika ſind die veſteſten Deſpo- tien Aſien nahe; je weiter hinab, deſto mehr iſt die Tyrannei noch im rohen Zuſtande, bis ſie ſich endlich unter den Kaffern in den patriarchaliſchen Hirtenzuſtand verlieret. Auf dem ſuͤd- lichen

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/315>, abgerufen am 16.05.2024.