Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Je tiefer wir westlich den Berg Asiens hinunterwandern:
desto kürzer werden die Zeitalter und Sagen der Urwelt. Man
siehet ihnen allen schon eine spätere Abkunft, die Anwendung
fremder Traditionen aus höheren Erdstrichen auf niedrigere
Länder an. Jn Localbestimmungen werden sie immer unpas-
sender, dafür aber gewinnen sie im System selbst an Ründe
und Klarheit, weil sich nur hie und da noch ein Bruchstück
der alten Fabel und auch dies überall in einem neuern Natio-
nalgewande zeiget. Jch wundre mich daher, wie man auf
der Einen Seite den Sanchoniathon ganz zu einem Betrüger
und auf der andern zum ersten Propheten der Urwelt habe
machen können, da ihm zu dieser schon die physische Lage sei-
nes Landes den Zugang versagte. Daß der Anfang dieses
Alls eine finstre Luft, ein dunkles trübes Chaos gewesen, daß
dieses Grenzen- und Gestaltlos von unendlichen Zeiten her
im wüsten Raum geschwebt, bis der webende Geist mit seinen
eignen Principien in Liebe verfiel und aus ihrer Vermischung
ein Anfang der Schöpfung wurde -- diese Mythologie ist
eine so alte und den verschiedensten Völkern gemeine Vorstel-
lungsart gewesen, daß dem Phönicier hiebei wenig zu erdich-
ten übrig blieb. Beinahe jedes Volk Asiens, die Aegypter
und Griechen mit eingeschlossen, erzählte die Tradition vom
Chaos oder vom bebrüteten Ei auf seine Weise; warum konn-
ten sich nicht also auch in einem phönicischen Tempel geschrie-

bene

Je tiefer wir weſtlich den Berg Aſiens hinunterwandern:
deſto kuͤrzer werden die Zeitalter und Sagen der Urwelt. Man
ſiehet ihnen allen ſchon eine ſpaͤtere Abkunft, die Anwendung
fremder Traditionen aus hoͤheren Erdſtrichen auf niedrigere
Laͤnder an. Jn Localbeſtimmungen werden ſie immer unpaſ-
ſender, dafuͤr aber gewinnen ſie im Syſtem ſelbſt an Ruͤnde
und Klarheit, weil ſich nur hie und da noch ein Bruchſtuͤck
der alten Fabel und auch dies uͤberall in einem neuern Natio-
nalgewande zeiget. Jch wundre mich daher, wie man auf
der Einen Seite den Sanchoniathon ganz zu einem Betruͤger
und auf der andern zum erſten Propheten der Urwelt habe
machen koͤnnen, da ihm zu dieſer ſchon die phyſiſche Lage ſei-
nes Landes den Zugang verſagte. Daß der Anfang dieſes
Alls eine finſtre Luft, ein dunkles truͤbes Chaos geweſen, daß
dieſes Grenzen- und Geſtaltlos von unendlichen Zeiten her
im wuͤſten Raum geſchwebt, bis der webende Geiſt mit ſeinen
eignen Principien in Liebe verfiel und aus ihrer Vermiſchung
ein Anfang der Schoͤpfung wurde — dieſe Mythologie iſt
eine ſo alte und den verſchiedenſten Voͤlkern gemeine Vorſtel-
lungsart geweſen, daß dem Phoͤnicier hiebei wenig zu erdich-
ten uͤbrig blieb. Beinahe jedes Volk Aſiens, die Aegypter
und Griechen mit eingeſchloſſen, erzaͤhlte die Tradition vom
Chaos oder vom bebruͤteten Ei auf ſeine Weiſe; warum konn-
ten ſich nicht alſo auch in einem phoͤniciſchen Tempel geſchrie-

bene
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0323" n="311"/>
          <p>Je tiefer wir we&#x017F;tlich den Berg A&#x017F;iens hinunterwandern:<lb/>
de&#x017F;to ku&#x0364;rzer werden die Zeitalter und Sagen der Urwelt. Man<lb/>
&#x017F;iehet ihnen allen &#x017F;chon eine &#x017F;pa&#x0364;tere Abkunft, die Anwendung<lb/>
fremder Traditionen aus ho&#x0364;heren Erd&#x017F;trichen auf niedrigere<lb/>
La&#x0364;nder an. Jn Localbe&#x017F;timmungen werden &#x017F;ie immer unpa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ender, dafu&#x0364;r aber gewinnen &#x017F;ie im Sy&#x017F;tem &#x017F;elb&#x017F;t an Ru&#x0364;nde<lb/>
und Klarheit, weil &#x017F;ich nur hie und da noch ein Bruch&#x017F;tu&#x0364;ck<lb/>
der alten Fabel und auch dies u&#x0364;berall in einem neuern Natio-<lb/>
nalgewande zeiget. Jch wundre mich daher, wie man auf<lb/>
der Einen Seite den Sanchoniathon ganz zu einem Betru&#x0364;ger<lb/>
und auf der andern zum er&#x017F;ten Propheten der Urwelt habe<lb/>
machen ko&#x0364;nnen, da ihm zu die&#x017F;er &#x017F;chon die phy&#x017F;i&#x017F;che Lage &#x017F;ei-<lb/>
nes Landes den Zugang ver&#x017F;agte. Daß der Anfang die&#x017F;es<lb/>
Alls eine fin&#x017F;tre Luft, ein dunkles tru&#x0364;bes Chaos gewe&#x017F;en, daß<lb/>
die&#x017F;es Grenzen- und Ge&#x017F;taltlos von unendlichen Zeiten her<lb/>
im wu&#x0364;&#x017F;ten Raum ge&#x017F;chwebt, bis der webende Gei&#x017F;t mit &#x017F;einen<lb/>
eignen Principien in Liebe verfiel und aus ihrer Vermi&#x017F;chung<lb/>
ein Anfang der Scho&#x0364;pfung wurde &#x2014; die&#x017F;e Mythologie i&#x017F;t<lb/>
eine &#x017F;o alte und den ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Vo&#x0364;lkern gemeine Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungsart gewe&#x017F;en, daß dem Pho&#x0364;nicier hiebei wenig zu erdich-<lb/>
ten u&#x0364;brig blieb. Beinahe jedes Volk A&#x017F;iens, die Aegypter<lb/>
und Griechen mit einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, erza&#x0364;hlte die Tradition vom<lb/>
Chaos oder vom bebru&#x0364;teten Ei auf &#x017F;eine Wei&#x017F;e; warum konn-<lb/>
ten &#x017F;ich nicht al&#x017F;o auch in einem pho&#x0364;nici&#x017F;chen Tempel ge&#x017F;chrie-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bene</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[311/0323] Je tiefer wir weſtlich den Berg Aſiens hinunterwandern: deſto kuͤrzer werden die Zeitalter und Sagen der Urwelt. Man ſiehet ihnen allen ſchon eine ſpaͤtere Abkunft, die Anwendung fremder Traditionen aus hoͤheren Erdſtrichen auf niedrigere Laͤnder an. Jn Localbeſtimmungen werden ſie immer unpaſ- ſender, dafuͤr aber gewinnen ſie im Syſtem ſelbſt an Ruͤnde und Klarheit, weil ſich nur hie und da noch ein Bruchſtuͤck der alten Fabel und auch dies uͤberall in einem neuern Natio- nalgewande zeiget. Jch wundre mich daher, wie man auf der Einen Seite den Sanchoniathon ganz zu einem Betruͤger und auf der andern zum erſten Propheten der Urwelt habe machen koͤnnen, da ihm zu dieſer ſchon die phyſiſche Lage ſei- nes Landes den Zugang verſagte. Daß der Anfang dieſes Alls eine finſtre Luft, ein dunkles truͤbes Chaos geweſen, daß dieſes Grenzen- und Geſtaltlos von unendlichen Zeiten her im wuͤſten Raum geſchwebt, bis der webende Geiſt mit ſeinen eignen Principien in Liebe verfiel und aus ihrer Vermiſchung ein Anfang der Schoͤpfung wurde — dieſe Mythologie iſt eine ſo alte und den verſchiedenſten Voͤlkern gemeine Vorſtel- lungsart geweſen, daß dem Phoͤnicier hiebei wenig zu erdich- ten uͤbrig blieb. Beinahe jedes Volk Aſiens, die Aegypter und Griechen mit eingeſchloſſen, erzaͤhlte die Tradition vom Chaos oder vom bebruͤteten Ei auf ſeine Weiſe; warum konn- ten ſich nicht alſo auch in einem phoͤniciſchen Tempel geſchrie- bene

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/323
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/323>, abgerufen am 16.05.2024.