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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796.

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raten läßt diese Dichtungsart zu: denn sie
ist Poesie in Prose.

Man sagt zwar, daß in ihren besten
Zeiten die Griechen und Römer den Ro-
man nicht gekannt haben; dem scheint aber
nicht also. Homers Gedichte selbst sind
Romane in ihrer Art; Herodot schrieb
seine Geschichte, so wahr sie seyn mag,
als einen Roman; als einen Roman hör-
ten sie die Griechen. So schrieb Xeno-
phon die Cyropädie und das Gastmahl;
so Plato mehrere seiner Gespräche; und
was sind Lucians wunderbare Reisen?
Wie jeder andern haben also auch der ro-
mantischen Einkleidung die Griechen Ziel
und Maas gegeben. Daß mit der Zeit
der Roman einen größeren Umfang, eine
reichere Mannichfaltigkeit bekommen, ist
natürlich. Seitdem hat sich das Rad der
Zeiten so oft umgewälzt und mit neuen

raten laͤßt dieſe Dichtungsart zu: denn ſie
iſt Poeſie in Proſe.

Man ſagt zwar, daß in ihren beſten
Zeiten die Griechen und Roͤmer den Ro-
man nicht gekannt haben; dem ſcheint aber
nicht alſo. Homers Gedichte ſelbſt ſind
Romane in ihrer Art; Herodot ſchrieb
ſeine Geſchichte, ſo wahr ſie ſeyn mag,
als einen Roman; als einen Roman hoͤr-
ten ſie die Griechen. So ſchrieb Xeno-
phon die Cyropaͤdie und das Gaſtmahl;
ſo Plato mehrere ſeiner Geſpraͤche; und
was ſind Lucians wunderbare Reiſen?
Wie jeder andern haben alſo auch der ro-
mantiſchen Einkleidung die Griechen Ziel
und Maas gegeben. Daß mit der Zeit
der Roman einen groͤßeren Umfang, eine
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[105/0124] raten laͤßt dieſe Dichtungsart zu: denn ſie iſt Poeſie in Proſe. Man ſagt zwar, daß in ihren beſten Zeiten die Griechen und Roͤmer den Ro- man nicht gekannt haben; dem ſcheint aber nicht alſo. Homers Gedichte ſelbſt ſind Romane in ihrer Art; Herodot ſchrieb ſeine Geſchichte, ſo wahr ſie ſeyn mag, als einen Roman; als einen Roman hoͤr- ten ſie die Griechen. So ſchrieb Xeno- phon die Cyropaͤdie und das Gaſtmahl; ſo Plato mehrere ſeiner Geſpraͤche; und was ſind Lucians wunderbare Reiſen? Wie jeder andern haben alſo auch der ro- mantiſchen Einkleidung die Griechen Ziel und Maas gegeben. Daß mit der Zeit der Roman einen groͤßeren Umfang, eine reichere Mannichfaltigkeit bekommen, iſt natuͤrlich. Seitdem hat ſich das Rad der Zeiten ſo oft umgewaͤlzt und mit neuen

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/124>, abgerufen am 28.04.2024.