"Homer malet nichts, als fortschreitende Hand- lungen: alle Körper, alle einzelne Körper malet er nur "durch ihren Antheil an den Handlungen, ge- "meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn "ja besondere Umstände, unsern Blick auf einen "einzelnen körperlichen Gegenstand länger zu heften: "so weist er durch unzälige Kunstgriffe diesen ein- "zelnen Gegenstand in einer Folge von Augenbli- "cken, in deren jedem er anders erscheint a) --" Schön! vortrefflich! die wahre Manier Homers! -- Nur ob Homer diese Manier gewählt, weil er mit successiven Tönen schildern wollte b), weil er körperliche Gegenstände anders zu schildern verzwei- felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in der schönsten Ordnung von einem theile des Gegen- standes führte, daß, wenn er uns auch die Verbin- dung dieser Theile noch so klar zu machen wüßte c); dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur beständig gegenwärtig blieben, für das Ohr hinge- gen die vernommenen Theile, folglich die Mühe des Dichters, verlohren wäre -- ob deßwegen Homer seine Gegenstände in eine Folge von Augenblicken gesetzt, ist mir nie bei Homer beigefallen.
Wenn seine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju- no Stück vor Stück zusammensetztd), ent- kommt da der Dichter dem Versuche, ein Coexsisten-
tes
a)p. 155.
b)p. 153.
c)p. 167.
d)Iliad. E. v. 722 -- 731.
Kritiſche Waͤlder.
„Homer malet nichts, als fortſchreitende Hand- lungen: alle Koͤrper, alle einzelne Koͤrper malet er nur „durch ihren Antheil an den Handlungen, ge- „meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn „ja beſondere Umſtaͤnde, unſern Blick auf einen „einzelnen koͤrperlichen Gegenſtand laͤnger zu heften: „ſo weiſt er durch unzaͤlige Kunſtgriffe dieſen ein- „zelnen Gegenſtand in einer Folge von Augenbli- „cken, in deren jedem er anders erſcheint a) —„ Schoͤn! vortrefflich! die wahre Manier Homers! — Nur ob Homer dieſe Manier gewaͤhlt, weil er mit ſucceſſiven Toͤnen ſchildern wollte b), weil er koͤrperliche Gegenſtaͤnde anders zu ſchildern verzwei- felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in der ſchoͤnſten Ordnung von einem theile des Gegen- ſtandes fuͤhrte, daß, wenn er uns auch die Verbin- dung dieſer Theile noch ſo klar zu machen wuͤßte c); dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur beſtaͤndig gegenwaͤrtig blieben, fuͤr das Ohr hinge- gen die vernommenen Theile, folglich die Muͤhe des Dichters, verlohren waͤre — ob deßwegen Homer ſeine Gegenſtaͤnde in eine Folge von Augenblicken geſetzt, iſt mir nie bei Homer beigefallen.
Wenn ſeine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju- no Stuͤck vor Stuͤck zuſammenſetztd), ent- kommt da der Dichter dem Verſuche, ein Coexſiſten-
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a)p. 155.
b)p. 153.
c)p. 167.
d)Iliad. Ε. v. 722 — 731.
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Kritiſche Waͤlder.
„Homer malet nichts, als fortſchreitende Hand-
lungen: alle Koͤrper, alle einzelne Koͤrper malet er
nur „durch ihren Antheil an den Handlungen, ge-
„meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn
„ja beſondere Umſtaͤnde, unſern Blick auf einen
„einzelnen koͤrperlichen Gegenſtand laͤnger zu heften:
„ſo weiſt er durch unzaͤlige Kunſtgriffe dieſen ein-
„zelnen Gegenſtand in einer Folge von Augenbli-
„cken, in deren jedem er anders erſcheint a) —„
Schoͤn! vortrefflich! die wahre Manier Homers!
— Nur ob Homer dieſe Manier gewaͤhlt, weil er
mit ſucceſſiven Toͤnen ſchildern wollte b), weil er
koͤrperliche Gegenſtaͤnde anders zu ſchildern verzwei-
felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in
der ſchoͤnſten Ordnung von einem theile des Gegen-
ſtandes fuͤhrte, daß, wenn er uns auch die Verbin-
dung dieſer Theile noch ſo klar zu machen wuͤßte c);
dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur
beſtaͤndig gegenwaͤrtig blieben, fuͤr das Ohr hinge-
gen die vernommenen Theile, folglich die Muͤhe des
Dichters, verlohren waͤre — ob deßwegen Homer
ſeine Gegenſtaͤnde in eine Folge von Augenblicken
geſetzt, iſt mir nie bei Homer beigefallen.
Wenn ſeine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju-
no Stuͤck vor Stuͤck zuſammenſetzt d), ent-
kommt da der Dichter dem Verſuche, ein Coexſiſten-
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a) p. 155.
b) p. 153.
c) p. 167.
d) Iliad. Ε. v. 722 — 731.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/218>, abgerufen am 16.06.2024.
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