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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
nicht öffnen; so schlaget mein Buch zu; wir sind
keine Leute für einander; an mich habt ihr kein meh-
reres Recht, als ich euch gebe, nämlich daß ich euch
mit Dichtungen in Traum setzen, nicht daß ich euch
wachend lehren wollte. Auf unmittelbare Moralen,
trocken und schläfrig, wie ihr selbst, kommt bei mir
nicht zu Tische: wenn ihr euch meine lasterhaften
Charaktere, meine Tändeleien moralisch merken
wollt, so thuts nicht um darnach zu handeln, son-
dern um sie zu erkennen. Gewöhnet euch, aus mei-
nem leichtsinnigen und scherzhaften Geschwätze nur
immer dazu, auch in schwatzhaften Auftritten dieser
Art, wo sie euch wirklich im Leben erscheinen, Ge-
schmack zu beweisen, sie auch hinter ihren Masken
nicht zu verkennen, und euer Urtheil schon längst-
her darüber sicher zu haben -- Nutzen gnug von
meinem Geschwätze. Jn meinem Buche könnt ihr
immer ohne Kosten der Unschuld lachen; nur müs-
set ihr mich weder im Bösen noch im Guten, zuerst
und vorzüglich für Etwas nehmen wollen, was ich
nicht bin -- Sittenlehrer durch Vorschrift oder
Beispiele. Virgil ist ein epischer Dichter, kein
Custos des sechsten Gebots.

Jch will nicht sagen, daß ich die Sorgfalt der
Dichter für Ehrbarkeit und Zucht etwa verspotten,
oder geringschätzig machen wollte: sie bleibt schätz-
bar und nachahmenswürdig. Aber auf sie, als auf
Hauptaugenmerk ausgehen, kann keine poetische Le-

ser
J 3

Zweites Waͤldchen.
nicht oͤffnen; ſo ſchlaget mein Buch zu; wir ſind
keine Leute fuͤr einander; an mich habt ihr kein meh-
reres Recht, als ich euch gebe, naͤmlich daß ich euch
mit Dichtungen in Traum ſetzen, nicht daß ich euch
wachend lehren wollte. Auf unmittelbare Moralen,
trocken und ſchlaͤfrig, wie ihr ſelbſt, kommt bei mir
nicht zu Tiſche: wenn ihr euch meine laſterhaften
Charaktere, meine Taͤndeleien moraliſch merken
wollt, ſo thuts nicht um darnach zu handeln, ſon-
dern um ſie zu erkennen. Gewoͤhnet euch, aus mei-
nem leichtſinnigen und ſcherzhaften Geſchwaͤtze nur
immer dazu, auch in ſchwatzhaften Auftritten dieſer
Art, wo ſie euch wirklich im Leben erſcheinen, Ge-
ſchmack zu beweiſen, ſie auch hinter ihren Masken
nicht zu verkennen, und euer Urtheil ſchon laͤngſt-
her daruͤber ſicher zu haben — Nutzen gnug von
meinem Geſchwaͤtze. Jn meinem Buche koͤnnt ihr
immer ohne Koſten der Unſchuld lachen; nur muͤſ-
ſet ihr mich weder im Boͤſen noch im Guten, zuerſt
und vorzuͤglich fuͤr Etwas nehmen wollen, was ich
nicht bin — Sittenlehrer durch Vorſchrift oder
Beiſpiele. Virgil iſt ein epiſcher Dichter, kein
Cuſtos des ſechſten Gebots.

Jch will nicht ſagen, daß ich die Sorgfalt der
Dichter fuͤr Ehrbarkeit und Zucht etwa verſpotten,
oder geringſchaͤtzig machen wollte: ſie bleibt ſchaͤtz-
bar und nachahmenswuͤrdig. Aber auf ſie, als auf
Hauptaugenmerk ausgehen, kann keine poetiſche Le-

ſer
J 3
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[133/0139] Zweites Waͤldchen. nicht oͤffnen; ſo ſchlaget mein Buch zu; wir ſind keine Leute fuͤr einander; an mich habt ihr kein meh- reres Recht, als ich euch gebe, naͤmlich daß ich euch mit Dichtungen in Traum ſetzen, nicht daß ich euch wachend lehren wollte. Auf unmittelbare Moralen, trocken und ſchlaͤfrig, wie ihr ſelbſt, kommt bei mir nicht zu Tiſche: wenn ihr euch meine laſterhaften Charaktere, meine Taͤndeleien moraliſch merken wollt, ſo thuts nicht um darnach zu handeln, ſon- dern um ſie zu erkennen. Gewoͤhnet euch, aus mei- nem leichtſinnigen und ſcherzhaften Geſchwaͤtze nur immer dazu, auch in ſchwatzhaften Auftritten dieſer Art, wo ſie euch wirklich im Leben erſcheinen, Ge- ſchmack zu beweiſen, ſie auch hinter ihren Masken nicht zu verkennen, und euer Urtheil ſchon laͤngſt- her daruͤber ſicher zu haben — Nutzen gnug von meinem Geſchwaͤtze. Jn meinem Buche koͤnnt ihr immer ohne Koſten der Unſchuld lachen; nur muͤſ- ſet ihr mich weder im Boͤſen noch im Guten, zuerſt und vorzuͤglich fuͤr Etwas nehmen wollen, was ich nicht bin — Sittenlehrer durch Vorſchrift oder Beiſpiele. Virgil iſt ein epiſcher Dichter, kein Cuſtos des ſechſten Gebots. Jch will nicht ſagen, daß ich die Sorgfalt der Dichter fuͤr Ehrbarkeit und Zucht etwa verſpotten, oder geringſchaͤtzig machen wollte: ſie bleibt ſchaͤtz- bar und nachahmenswuͤrdig. Aber auf ſie, als auf Hauptaugenmerk ausgehen, kann keine poetiſche Le- ſer J 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/139>, abgerufen am 26.04.2024.