Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
Liebesspiel selbst an. Bei Homer muß Juno in ei-
ner ganz andern Absicht den Jda vorbeiziehen,
ganz, wie es scheint, ohne Absicht, ihm das Herz
entwenden, sich anhalten, und durch ein außeror-
dentliches Verlangen ihres Ehegemals, durch das
offne Liebesbekenntniß, daß diese Schäferstunde alle,
alle seine Schäferstunden nach Namen und Zahl
übertreffe, u. s. w. sich weigernd in die-goldne Wol-
ke ziehen lassen: bei Virgil setzt es Venus mit ih-
ren Umarmungen offenbar darauf an. Bei Ho-
mer ist die Schäferstunde nur ein Mittel, die Au-
gen des Jupiters durch den Schlaf zu fesseln; bei
Virgil ist sie der Marktpreis, daß Venus ihre Ab-
sichten erreiche -- Wer ist schamhafter, anstän-
diger, edler? Gewiß! so weit Juno die Venus an
Hoheit und Adel: so weit übertrifft Homer sei-
nen römischen Nachahmer an innerer Würde und
Schamhaftigkeit. Jener erzälet unschuldig, offen-
herzig und, wenn man will, langweilig: der Rö-
mer versteckt, verkürzet; er hat sein: Jch könnte
mehr sagen! Jener erzält episch, übergehend: die-
ser malet, damit er Funken errege -- wer verliert
bei der Vergleichung?

Es bleibt Virgils Zucht in Worten und Formeln
über a). Jn Worten und Formeln? Darüber
sollte Mäcenas urtheilen: wir, jetzt, nach der Ana-
logie unsrer Sprache, nach den wenigen Hülfsmit-

teln
a) p. 266.

Kritiſche Waͤlder.
Liebesſpiel ſelbſt an. Bei Homer muß Juno in ei-
ner ganz andern Abſicht den Jda vorbeiziehen,
ganz, wie es ſcheint, ohne Abſicht, ihm das Herz
entwenden, ſich anhalten, und durch ein außeror-
dentliches Verlangen ihres Ehegemals, durch das
offne Liebesbekenntniß, daß dieſe Schaͤferſtunde alle,
alle ſeine Schaͤferſtunden nach Namen und Zahl
uͤbertreffe, u. ſ. w. ſich weigernd in die-goldne Wol-
ke ziehen laſſen: bei Virgil ſetzt es Venus mit ih-
ren Umarmungen offenbar darauf an. Bei Ho-
mer iſt die Schaͤferſtunde nur ein Mittel, die Au-
gen des Jupiters durch den Schlaf zu feſſeln; bei
Virgil iſt ſie der Marktpreis, daß Venus ihre Ab-
ſichten erreiche — Wer iſt ſchamhafter, anſtaͤn-
diger, edler? Gewiß! ſo weit Juno die Venus an
Hoheit und Adel: ſo weit uͤbertrifft Homer ſei-
nen roͤmiſchen Nachahmer an innerer Wuͤrde und
Schamhaftigkeit. Jener erzaͤlet unſchuldig, offen-
herzig und, wenn man will, langweilig: der Roͤ-
mer verſteckt, verkuͤrzet; er hat ſein: Jch koͤnnte
mehr ſagen! Jener erzaͤlt epiſch, uͤbergehend: die-
ſer malet, damit er Funken errege — wer verliert
bei der Vergleichung?

Es bleibt Virgils Zucht in Worten und Formeln
uͤber a). Jn Worten und Formeln? Daruͤber
ſollte Maͤcenas urtheilen: wir, jetzt, nach der Ana-
logie unſrer Sprache, nach den wenigen Huͤlfsmit-

teln
a) p. 266.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0186" n="180"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
Liebes&#x017F;piel &#x017F;elb&#x017F;t an. Bei Homer muß Juno in ei-<lb/>
ner ganz andern Ab&#x017F;icht den Jda vorbeiziehen,<lb/>
ganz, wie es &#x017F;cheint, ohne Ab&#x017F;icht, ihm das Herz<lb/>
entwenden, &#x017F;ich anhalten, und durch ein außeror-<lb/>
dentliches Verlangen ihres Ehegemals, durch das<lb/>
offne Liebesbekenntniß, daß die&#x017F;e Scha&#x0364;fer&#x017F;tunde alle,<lb/>
alle &#x017F;eine Scha&#x0364;fer&#x017F;tunden nach Namen und Zahl<lb/>
u&#x0364;bertreffe, u. &#x017F;. w. &#x017F;ich weigernd in die-goldne Wol-<lb/>
ke ziehen la&#x017F;&#x017F;en: bei Virgil &#x017F;etzt es Venus mit ih-<lb/>
ren Umarmungen offenbar darauf an. Bei Ho-<lb/>
mer i&#x017F;t die Scha&#x0364;fer&#x017F;tunde nur ein Mittel, die Au-<lb/>
gen des Jupiters durch den Schlaf zu fe&#x017F;&#x017F;eln; bei<lb/>
Virgil i&#x017F;t &#x017F;ie der Marktpreis, daß Venus ihre Ab-<lb/>
&#x017F;ichten erreiche &#x2014; Wer i&#x017F;t &#x017F;chamhafter, an&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
diger, edler? Gewiß! &#x017F;o weit Juno die Venus an<lb/>
Hoheit und Adel: &#x017F;o weit u&#x0364;bertrifft Homer &#x017F;ei-<lb/>
nen ro&#x0364;mi&#x017F;chen Nachahmer an innerer Wu&#x0364;rde und<lb/>
Schamhaftigkeit. Jener erza&#x0364;let un&#x017F;chuldig, offen-<lb/>
herzig und, wenn man will, langweilig: der Ro&#x0364;-<lb/>
mer ver&#x017F;teckt, verku&#x0364;rzet; er hat &#x017F;ein: Jch ko&#x0364;nnte<lb/>
mehr &#x017F;agen! Jener erza&#x0364;lt epi&#x017F;ch, u&#x0364;bergehend: die-<lb/>
&#x017F;er malet, damit er Funken errege &#x2014; wer verliert<lb/>
bei der Vergleichung?</p><lb/>
          <p>Es bleibt Virgils Zucht in Worten und Formeln<lb/>
u&#x0364;ber <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 266.</note>. Jn Worten und Formeln? Daru&#x0364;ber<lb/>
&#x017F;ollte Ma&#x0364;cenas urtheilen: wir, jetzt, nach der Ana-<lb/>
logie un&#x017F;rer Sprache, nach den wenigen Hu&#x0364;lfsmit-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">teln</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0186] Kritiſche Waͤlder. Liebesſpiel ſelbſt an. Bei Homer muß Juno in ei- ner ganz andern Abſicht den Jda vorbeiziehen, ganz, wie es ſcheint, ohne Abſicht, ihm das Herz entwenden, ſich anhalten, und durch ein außeror- dentliches Verlangen ihres Ehegemals, durch das offne Liebesbekenntniß, daß dieſe Schaͤferſtunde alle, alle ſeine Schaͤferſtunden nach Namen und Zahl uͤbertreffe, u. ſ. w. ſich weigernd in die-goldne Wol- ke ziehen laſſen: bei Virgil ſetzt es Venus mit ih- ren Umarmungen offenbar darauf an. Bei Ho- mer iſt die Schaͤferſtunde nur ein Mittel, die Au- gen des Jupiters durch den Schlaf zu feſſeln; bei Virgil iſt ſie der Marktpreis, daß Venus ihre Ab- ſichten erreiche — Wer iſt ſchamhafter, anſtaͤn- diger, edler? Gewiß! ſo weit Juno die Venus an Hoheit und Adel: ſo weit uͤbertrifft Homer ſei- nen roͤmiſchen Nachahmer an innerer Wuͤrde und Schamhaftigkeit. Jener erzaͤlet unſchuldig, offen- herzig und, wenn man will, langweilig: der Roͤ- mer verſteckt, verkuͤrzet; er hat ſein: Jch koͤnnte mehr ſagen! Jener erzaͤlt epiſch, uͤbergehend: die- ſer malet, damit er Funken errege — wer verliert bei der Vergleichung? Es bleibt Virgils Zucht in Worten und Formeln uͤber a). Jn Worten und Formeln? Daruͤber ſollte Maͤcenas urtheilen: wir, jetzt, nach der Ana- logie unſrer Sprache, nach den wenigen Huͤlfsmit- teln a) p. 266.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/186
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/186>, abgerufen am 29.04.2024.