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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Schüler willst du zu Dummköpfen machen?*
Dies Geschichtchen, hat nun wohl eln Knabe
gelesen, aber Deutsche Homere? Viel eher, sa-
ge ich, in der Angst, den Griechischen selbst.
Und noch weniger gilt der Einwurf, den der
Kunstrichter wider die Bekanntschaft Homers
aus dem Xenophon macht, und wie ich fast
dazusezzen kann, Myopisch macht. Man warf
dem Sokrates vor: er habe Stellen aus dem
Homer angeführt, nicht die an sich gefähr-
liche Lehren enthielten, sondern die er in ei-
nem für den damaligen Atheniensischen Staat
gefährlichen Zweck angeführt. Nicht, als hätte
ihn Sokrates Grammatisch oder Poetisch miß-
gedeutet; sondern Politisch übel angewendet.
Daß ich nicht nach meinem lieben Eigensinn
deute; sondern daß es Xenophon selbst sagt,
zeigen seine Worte augenscheinlich: "Sokra-
"tes,
so sagte sein Ankläger, pflegt auch oft
"Homers Gedichte anzuführen: daß z. E.
"Ulysses den Vornehmern mit freundlichen
"Worten zugesprochen, wenn sich aber ein
"Geringerer unnütz machte: so schlug er ihn
"mit seinem Scepter und befahl ihm ruhig

"zu
* Plutarch. in vit. Alcibiad.

Schuͤler willſt du zu Dummkoͤpfen machen?*
Dies Geſchichtchen, hat nun wohl eln Knabe
geleſen, aber Deutſche Homere? Viel eher, ſa-
ge ich, in der Angſt, den Griechiſchen ſelbſt.
Und noch weniger gilt der Einwurf, den der
Kunſtrichter wider die Bekanntſchaft Homers
aus dem Xenophon macht, und wie ich faſt
dazuſezzen kann, Myopiſch macht. Man warf
dem Sokrates vor: er habe Stellen aus dem
Homer angefuͤhrt, nicht die an ſich gefaͤhr-
liche Lehren enthielten, ſondern die er in ei-
nem fuͤr den damaligen Athenienſiſchen Staat
gefaͤhrlichen Zweck angefuͤhrt. Nicht, als haͤtte
ihn Sokrates Grammatiſch oder Poetiſch miß-
gedeutet; ſondern Politiſch uͤbel angewendet.
Daß ich nicht nach meinem lieben Eigenſinn
deute; ſondern daß es Xenophon ſelbſt ſagt,
zeigen ſeine Worte augenſcheinlich: „Sokra-
„tes,
ſo ſagte ſein Anklaͤger, pflegt auch oft
Homers Gedichte anzufuͤhren: daß z. E.
„Ulyſſes den Vornehmern mit freundlichen
„Worten zugeſprochen, wenn ſich aber ein
„Geringerer unnuͤtz machte: ſo ſchlug er ihn
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[284/0116] Schuͤler willſt du zu Dummkoͤpfen machen? * Dies Geſchichtchen, hat nun wohl eln Knabe geleſen, aber Deutſche Homere? Viel eher, ſa- ge ich, in der Angſt, den Griechiſchen ſelbſt. Und noch weniger gilt der Einwurf, den der Kunſtrichter wider die Bekanntſchaft Homers aus dem Xenophon macht, und wie ich faſt dazuſezzen kann, Myopiſch macht. Man warf dem Sokrates vor: er habe Stellen aus dem Homer angefuͤhrt, nicht die an ſich gefaͤhr- liche Lehren enthielten, ſondern die er in ei- nem fuͤr den damaligen Athenienſiſchen Staat gefaͤhrlichen Zweck angefuͤhrt. Nicht, als haͤtte ihn Sokrates Grammatiſch oder Poetiſch miß- gedeutet; ſondern Politiſch uͤbel angewendet. Daß ich nicht nach meinem lieben Eigenſinn deute; ſondern daß es Xenophon ſelbſt ſagt, zeigen ſeine Worte augenſcheinlich: „Sokra- „tes, ſo ſagte ſein Anklaͤger, pflegt auch oft „Homers Gedichte anzufuͤhren: daß z. E. „Ulyſſes den Vornehmern mit freundlichen „Worten zugeſprochen, wenn ſich aber ein „Geringerer unnuͤtz machte: ſo ſchlug er ihn „mit ſeinem Scepter und befahl ihm ruhig „zu * Plutarch. in vit. Alcibiad.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/116>, abgerufen am 28.04.2024.