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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Ein Volk in seiner Wildheit ist in Spra-
che, Bildern und Lastern stark: Trunkenheit
und Gewaltthätigkeit sind die Lieblingslaster
einer Nation, die noch Mannheit (arete)
für Tugend, und trunkne Raserei für Vergnü-
gen hält. Alle die feine Schwachheiten wa-
ren damals noch nicht, die heut zu Tage un-
sere Güte und Fehler, unser Glück und Un-
glück bilden, die uns fromm und feige, listig
und zahm, gelehrt und müßig, mitleidig und
üppig machen. Diese Trunkenheit ge-
bar wilde Vergnügen, den ungezähmten Tanz,
eine rohe Musik, und nach der damaligen un-
gebildeten Sprache auch einen rohen Ge-
sang.

Nicht an Altären, sondern in wilden Freu-
dentänzen entsprang also die Dichtkunst, und
so wie man die Gewaltthätigkeit mit den schärf-
sten Gesetzen bändigte, so suchte man die
trunknen Neigungen der Menschen, die jenen
entwischten, durch Religion zu erhaschen. Jh-
re Götter trugen damals Keulen und Blitze:
die sanften Gratien waren noch nicht gebo-
ren; man verehrte die Kräfte der Natur:
rauh war ihr Gottesdienst, wie ihre Natur,

durch

Ein Volk in ſeiner Wildheit iſt in Spra-
che, Bildern und Laſtern ſtark: Trunkenheit
und Gewaltthaͤtigkeit ſind die Lieblingslaſter
einer Nation, die noch Mannheit (αρετη)
fuͤr Tugend, und trunkne Raſerei fuͤr Vergnuͤ-
gen haͤlt. Alle die feine Schwachheiten wa-
ren damals noch nicht, die heut zu Tage un-
ſere Guͤte und Fehler, unſer Gluͤck und Un-
gluͤck bilden, die uns fromm und feige, liſtig
und zahm, gelehrt und muͤßig, mitleidig und
uͤppig machen. Dieſe Trunkenheit ge-
bar wilde Vergnuͤgen, den ungezaͤhmten Tanz,
eine rohe Muſik, und nach der damaligen un-
gebildeten Sprache auch einen rohen Ge-
ſang.

Nicht an Altaͤren, ſondern in wilden Freu-
dentaͤnzen entſprang alſo die Dichtkunſt, und
ſo wie man die Gewaltthaͤtigkeit mit den ſchaͤrf-
ſten Geſetzen baͤndigte, ſo ſuchte man die
trunknen Neigungen der Menſchen, die jenen
entwiſchten, durch Religion zu erhaſchen. Jh-
re Goͤtter trugen damals Keulen und Blitze:
die ſanften Gratien waren noch nicht gebo-
ren; man verehrte die Kraͤfte der Natur:
rauh war ihr Gottesdienſt, wie ihre Natur,

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[303/0135] Ein Volk in ſeiner Wildheit iſt in Spra- che, Bildern und Laſtern ſtark: Trunkenheit und Gewaltthaͤtigkeit ſind die Lieblingslaſter einer Nation, die noch Mannheit (αρετη) fuͤr Tugend, und trunkne Raſerei fuͤr Vergnuͤ- gen haͤlt. Alle die feine Schwachheiten wa- ren damals noch nicht, die heut zu Tage un- ſere Guͤte und Fehler, unſer Gluͤck und Un- gluͤck bilden, die uns fromm und feige, liſtig und zahm, gelehrt und muͤßig, mitleidig und uͤppig machen. Dieſe Trunkenheit ge- bar wilde Vergnuͤgen, den ungezaͤhmten Tanz, eine rohe Muſik, und nach der damaligen un- gebildeten Sprache auch einen rohen Ge- ſang. Nicht an Altaͤren, ſondern in wilden Freu- dentaͤnzen entſprang alſo die Dichtkunſt, und ſo wie man die Gewaltthaͤtigkeit mit den ſchaͤrf- ſten Geſetzen baͤndigte, ſo ſuchte man die trunknen Neigungen der Menſchen, die jenen entwiſchten, durch Religion zu erhaſchen. Jh- re Goͤtter trugen damals Keulen und Blitze: die ſanften Gratien waren noch nicht gebo- ren; man verehrte die Kraͤfte der Natur: rauh war ihr Gottesdienſt, wie ihre Natur, durch

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/135>, abgerufen am 28.04.2024.