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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Kann ich denn nicht über den Geist der Theile,
über jede Erdichtung in demselben, als über
ein Ganzes urtheilen, ohne ein Prophet seyn
zu dürfen, oder dem Verfasser Unrecht zu thun?

Ueber Fragmente, denke ich, soll man am
ersten urtheilen, um dem Verfasser zu helfen,
oder wenigstens seine Stimme auch zu geben;
dadurch, und dadurch allein arbeitet ein Künst-
ler vor den Augen des Publikum: er hat ein
unvollendetes Tagewerk hingestellt, und steht
hinter demselben, um nach den Urtheilen der
Kenner begangene Fehler zu verbessern, und
künftigen zuvorzukommen. Hätte Klopstock,
gleich im Anfange, statt eines posaunenden
Lobredners, einen Kritischen Freund gefun-
den: hätte er nicht gleich so viel blinden Bei-
fall, und noch blindere Nachahmung gesehen:
vielleicht würde manches in seinem vortrefli-
chen Gedicht noch vortreflicher seyn.

Aber so gehts! Ueber kleine Geister, über
Lehrlinge und Gesellen, die Versuche machen,
sind Kunstrichter gleich in Menge da; sie sind
Fliegengötter, auf die auch immer die Va-
riante dieses Namens (Beelzebub und Beel-
zebul
) passen mag! Aber es tritt ein Genie

auf,

Kann ich denn nicht uͤber den Geiſt der Theile,
uͤber jede Erdichtung in demſelben, als uͤber
ein Ganzes urtheilen, ohne ein Prophet ſeyn
zu duͤrfen, oder dem Verfaſſer Unrecht zu thun?

Ueber Fragmente, denke ich, ſoll man am
erſten urtheilen, um dem Verfaſſer zu helfen,
oder wenigſtens ſeine Stimme auch zu geben;
dadurch, und dadurch allein arbeitet ein Kuͤnſt-
ler vor den Augen des Publikum: er hat ein
unvollendetes Tagewerk hingeſtellt, und ſteht
hinter demſelben, um nach den Urtheilen der
Kenner begangene Fehler zu verbeſſern, und
kuͤnftigen zuvorzukommen. Haͤtte Klopſtock,
gleich im Anfange, ſtatt eines poſaunenden
Lobredners, einen Kritiſchen Freund gefun-
den: haͤtte er nicht gleich ſo viel blinden Bei-
fall, und noch blindere Nachahmung geſehen:
vielleicht wuͤrde manches in ſeinem vortrefli-
chen Gedicht noch vortreflicher ſeyn.

Aber ſo gehts! Ueber kleine Geiſter, uͤber
Lehrlinge und Geſellen, die Verſuche machen,
ſind Kunſtrichter gleich in Menge da; ſie ſind
Fliegengoͤtter, auf die auch immer die Va-
riante dieſes Namens (Beelzebub und Beel-
zebul
) paſſen mag! Aber es tritt ein Genie

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[240/0072] Kann ich denn nicht uͤber den Geiſt der Theile, uͤber jede Erdichtung in demſelben, als uͤber ein Ganzes urtheilen, ohne ein Prophet ſeyn zu duͤrfen, oder dem Verfaſſer Unrecht zu thun? Ueber Fragmente, denke ich, ſoll man am erſten urtheilen, um dem Verfaſſer zu helfen, oder wenigſtens ſeine Stimme auch zu geben; dadurch, und dadurch allein arbeitet ein Kuͤnſt- ler vor den Augen des Publikum: er hat ein unvollendetes Tagewerk hingeſtellt, und ſteht hinter demſelben, um nach den Urtheilen der Kenner begangene Fehler zu verbeſſern, und kuͤnftigen zuvorzukommen. Haͤtte Klopſtock, gleich im Anfange, ſtatt eines poſaunenden Lobredners, einen Kritiſchen Freund gefun- den: haͤtte er nicht gleich ſo viel blinden Bei- fall, und noch blindere Nachahmung geſehen: vielleicht wuͤrde manches in ſeinem vortrefli- chen Gedicht noch vortreflicher ſeyn. Aber ſo gehts! Ueber kleine Geiſter, uͤber Lehrlinge und Geſellen, die Verſuche machen, ſind Kunſtrichter gleich in Menge da; ſie ſind Fliegengoͤtter, auf die auch immer die Va- riante dieſes Namens (Beelzebub und Beel- zebul) paſſen mag! Aber es tritt ein Genie auf,

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/72>, abgerufen am 29.04.2024.