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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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sollen; so müssen mir eine besondre Neigung
für dieselbe haben: sie betreffen alsdenn ent-

weder
schienen, und welches mit dem Denkwort:
remember thee, so launisch spielt: der rüh-
rende Kampf mit sich, od er seyn, oder nicht
seyn soll, und das darauf folgende Gespräch
mit der Ophelia, seine Unzufriedenheit mit
sich, bei Gelegenheit des Fortimbras, seine
vertrauten Unterredungen mit Horatio, seine
Betrachtungen über die Hirnschädeln am
Grabe, kurz, seine misanthropische Gesinnun-
gen, die er lebend und sterbend äußert, her-
setzen: sie sind über den Zustand der
Menschheit;
sie sind nicht Satyre, wenn
ich das Gespräch mit der Ophelia ausnehme:
sie sind nicht schlagende Donner der Ode:
sondern von fern her dumpf murmelnde Ge-
witterwolken -- aber doch nicht Elegien.
Denn solche Klagen über das Allgemeine
müssen doch durch einzelne Vorfälle veran-
laßt werden, und da erheben sie sich immer
eher zu einem Tone, der unzufrieden mit
sich, oder der Welt, jetzt mit seinem Selbst,
und jetzt mit dem Schicksal hadert. Oder
wem das Verderben, und die Sünde als
Mutter des Elends erscheint, (denn wer
kann die eine sehen, ohne Widerwillen an die
andre zu denken): so wirst sich der klagende
Dichter,
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ſollen; ſo muͤſſen mir eine beſondre Neigung
fuͤr dieſelbe haben: ſie betreffen alsdenn ent-

weder
ſchienen, und welches mit dem Denkwort:
remember thee, ſo launiſch ſpielt: der ruͤh-
rende Kampf mit ſich, od er ſeyn, oder nicht
ſeyn ſoll, und das darauf folgende Geſpraͤch
mit der Ophelia, ſeine Unzufriedenheit mit
ſich, bei Gelegenheit des Fortimbras, ſeine
vertrauten Unterredungen mit Horatio, ſeine
Betrachtungen uͤber die Hirnſchaͤdeln am
Grabe, kurz, ſeine miſanthropiſche Geſinnun-
gen, die er lebend und ſterbend aͤußert, her-
ſetzen: ſie ſind uͤber den Zuſtand der
Menſchheit;
ſie ſind nicht Satyre, wenn
ich das Geſpraͤch mit der Ophelia ausnehme:
ſie ſind nicht ſchlagende Donner der Ode:
ſondern von fern her dumpf murmelnde Ge-
witterwolken — aber doch nicht Elegien.
Denn ſolche Klagen uͤber das Allgemeine
muͤſſen doch durch einzelne Vorfaͤlle veran-
laßt werden, und da erheben ſie ſich immer
eher zu einem Tone, der unzufrieden mit
ſich, oder der Welt, jetzt mit ſeinem Selbſt,
und jetzt mit dem Schickſal hadert. Oder
wem das Verderben, und die Suͤnde als
Mutter des Elends erſcheint, (denn wer
kann die eine ſehen, ohne Widerwillen an die
andre zu denken): ſo wirſt ſich der klagende
Dichter,
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[229/0237] ſollen; ſo muͤſſen mir eine beſondre Neigung fuͤr dieſelbe haben: ſie betreffen alsdenn ent- weder * * ſchienen, und welches mit dem Denkwort: remember thee, ſo launiſch ſpielt: der ruͤh- rende Kampf mit ſich, od er ſeyn, oder nicht ſeyn ſoll, und das darauf folgende Geſpraͤch mit der Ophelia, ſeine Unzufriedenheit mit ſich, bei Gelegenheit des Fortimbras, ſeine vertrauten Unterredungen mit Horatio, ſeine Betrachtungen uͤber die Hirnſchaͤdeln am Grabe, kurz, ſeine miſanthropiſche Geſinnun- gen, die er lebend und ſterbend aͤußert, her- ſetzen: ſie ſind uͤber den Zuſtand der Menſchheit; ſie ſind nicht Satyre, wenn ich das Geſpraͤch mit der Ophelia ausnehme: ſie ſind nicht ſchlagende Donner der Ode: ſondern von fern her dumpf murmelnde Ge- witterwolken — aber doch nicht Elegien. Denn ſolche Klagen uͤber das Allgemeine muͤſſen doch durch einzelne Vorfaͤlle veran- laßt werden, und da erheben ſie ſich immer eher zu einem Tone, der unzufrieden mit ſich, oder der Welt, jetzt mit ſeinem Selbſt, und jetzt mit dem Schickſal hadert. Oder wem das Verderben, und die Suͤnde als Mutter des Elends erſcheint, (denn wer kann die eine ſehen, ohne Widerwillen an die andre zu denken): ſo wirſt ſich der klagende Dichter, P 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/237>, abgerufen am 15.05.2024.