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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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dort oben die dünnen, luftigen Zweige, frey-
lich bebend, und flisternd bey jedem Winde;
aber spielt doch der Sonnenstral so schön durch
uns! stehn über Ast, Stamm und Wurzel
so hoch, sehen so weit und -- ja nicht ver-
gessen, können so weit und schön flistern!

Ob man nicht sähe, daß wir alle Laster und
Tugenden der vergangenen Zeit nicht haben,
weil wir -- durchaus nicht ihren Stand,
Kräfte
und Saft, Raum und Element ha-
ben. Freylich kein Fehler, aber was erlügt
man sich denn auch daraus, Lob, Ungereimt-
heiten
von Anmaßung? Was täuscht man
sich mit unsern Mitteln der Bildung, als ob
die das ausgerichtet? und nimmt alles zusam-
men, sich über den Tand seiner eignen Wich-
tigkeit
zu hintergehen? Warum endlich trägt
man den "Roman einseitiger Hohnlüge" denn
in alle Jahrhunderte, verspottet und verun-
ziert damit die Sitten aller Völker und Zeit-
läufte, daß ein gesunder, bescheidner, unein-
genommner Mensch ja fast in allen so genannt
pragmatischen Geschichten aller Welt, nichts
endlich mehr, als den ekelhaften Wust des
"Preisideals seiner Zeit" zu lesen, bekommt.
Der ganze Erdboden wird Misthaufe, auf

dem
J 4



dort oben die duͤnnen, luftigen Zweige, frey-
lich bebend, und fliſternd bey jedem Winde;
aber ſpielt doch der Sonnenſtral ſo ſchoͤn durch
uns! ſtehn uͤber Aſt, Stamm und Wurzel
ſo hoch, ſehen ſo weit und — ja nicht ver-
geſſen, koͤnnen ſo weit und ſchoͤn fliſtern!

Ob man nicht ſaͤhe, daß wir alle Laſter und
Tugenden der vergangenen Zeit nicht haben,
weil wir — durchaus nicht ihren Stand,
Kraͤfte
und Saft, Raum und Element ha-
ben. Freylich kein Fehler, aber was erluͤgt
man ſich denn auch daraus, Lob, Ungereimt-
heiten
von Anmaßung? Was taͤuſcht man
ſich mit unſern Mitteln der Bildung, als ob
die das ausgerichtet? und nimmt alles zuſam-
men, ſich uͤber den Tand ſeiner eignen Wich-
tigkeit
zu hintergehen? Warum endlich traͤgt
man den „Roman einſeitiger Hohnluͤge„ denn
in alle Jahrhunderte, verſpottet und verun-
ziert damit die Sitten aller Voͤlker und Zeit-
laͤufte, daß ein geſunder, beſcheidner, unein-
genommner Menſch ja faſt in allen ſo genannt
pragmatiſchen Geſchichten aller Welt, nichts
endlich mehr, als den ekelhaften Wuſt des
Preisideals ſeiner Zeit„ zu leſen, bekommt.
Der ganze Erdboden wird Miſthaufe, auf

dem
J 4
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[135/0139] dort oben die duͤnnen, luftigen Zweige, frey- lich bebend, und fliſternd bey jedem Winde; aber ſpielt doch der Sonnenſtral ſo ſchoͤn durch uns! ſtehn uͤber Aſt, Stamm und Wurzel ſo hoch, ſehen ſo weit und — ja nicht ver- geſſen, koͤnnen ſo weit und ſchoͤn fliſtern! Ob man nicht ſaͤhe, daß wir alle Laſter und Tugenden der vergangenen Zeit nicht haben, weil wir — durchaus nicht ihren Stand, Kraͤfte und Saft, Raum und Element ha- ben. Freylich kein Fehler, aber was erluͤgt man ſich denn auch daraus, Lob, Ungereimt- heiten von Anmaßung? Was taͤuſcht man ſich mit unſern Mitteln der Bildung, als ob die das ausgerichtet? und nimmt alles zuſam- men, ſich uͤber den Tand ſeiner eignen Wich- tigkeit zu hintergehen? Warum endlich traͤgt man den „Roman einſeitiger Hohnluͤge„ denn in alle Jahrhunderte, verſpottet und verun- ziert damit die Sitten aller Voͤlker und Zeit- laͤufte, daß ein geſunder, beſcheidner, unein- genommner Menſch ja faſt in allen ſo genannt pragmatiſchen Geſchichten aller Welt, nichts endlich mehr, als den ekelhaften Wuſt des „Preisideals ſeiner Zeit„ zu leſen, bekommt. Der ganze Erdboden wird Miſthaufe, auf dem J 4

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/139>, abgerufen am 29.04.2024.