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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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wächst! Wie es auch sey, gebt uns in man-
chem Betracht
eure Andacht und Aberglau-
ben, Finsterniß
und Unwissenheit, Unord-
nung
und Rohigkeit der Sitten und nehmt
unser Licht und Unglauben, unsre entnervte
Kälte
und Feinheit, unsre philosophische Ab-
gespanntheit
und menschliches Elend! --
Uebrigens aber freylich muß Berg und Thal
gränzen, und das dunkle feste Gewölbe konn-
te -- nichts anders seyn als dunkles festes
Gewölbe -- Gothisch!

Riesenschritt im Gange des menschlichen
Schicksals! Nähmen wirs blos, daß Verderb-
nisse
vorhergehen, um Verbesserung, Ord-
nung
hervorzubringen -- ein grosser Schritt!
Um das Licht zu geben war so grosser Schat-
te nöthig: Der Knote mußte so fest zugezo-
gen werden, damit nachher die Entwicklung
erfolge: mußte es nicht gähren, um den
hefenlosen, reinen göttlichen Trank zu geben? --
mich dünkt, das folgte unmittelbar aus "der
Lieblingsphilosophie" des Jahrhunderts. Da
könnt ihr ja herrlich beweisen, wie so viel Ecken
erst haben müssen gewaltig abgerieben wer-
den, ehe das runde, glatte, artige Ding er-
scheinen konnte, was wir sind! wie in der Kir-

che



waͤchſt! Wie es auch ſey, gebt uns in man-
chem Betracht
eure Andacht und Aberglau-
ben, Finſterniß
und Unwiſſenheit, Unord-
nung
und Rohigkeit der Sitten und nehmt
unſer Licht und Unglauben, unſre entnervte
Kaͤlte
und Feinheit, unſre philoſophiſche Ab-
geſpanntheit
und menſchliches Elend!
Uebrigens aber freylich muß Berg und Thal
graͤnzen, und das dunkle feſte Gewoͤlbe konn-
te — nichts anders ſeyn als dunkles feſtes
Gewoͤlbe — Gothiſch!

Rieſenſchritt im Gange des menſchlichen
Schickſals! Naͤhmen wirs blos, daß Verderb-
niſſe
vorhergehen, um Verbeſſerung, Ord-
nung
hervorzubringen — ein groſſer Schritt!
Um das Licht zu geben war ſo groſſer Schat-
te noͤthig: Der Knote mußte ſo feſt zugezo-
gen werden, damit nachher die Entwicklung
erfolge: mußte es nicht gaͤhren, um den
hefenloſen, reinen goͤttlichen Trank zu geben? —
mich duͤnkt, das folgte unmittelbar aus „der
Lieblingsphiloſophie„ des Jahrhunderts. Da
koͤnnt ihr ja herrlich beweiſen, wie ſo viel Ecken
erſt haben muͤſſen gewaltig abgerieben wer-
den, ehe das runde, glatte, artige Ding er-
ſcheinen konnte, was wir ſind! wie in der Kir-

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[86/0090] waͤchſt! Wie es auch ſey, gebt uns in man- chem Betracht eure Andacht und Aberglau- ben, Finſterniß und Unwiſſenheit, Unord- nung und Rohigkeit der Sitten und nehmt unſer Licht und Unglauben, unſre entnervte Kaͤlte und Feinheit, unſre philoſophiſche Ab- geſpanntheit und menſchliches Elend! — Uebrigens aber freylich muß Berg und Thal graͤnzen, und das dunkle feſte Gewoͤlbe konn- te — nichts anders ſeyn als dunkles feſtes Gewoͤlbe — Gothiſch! Rieſenſchritt im Gange des menſchlichen Schickſals! Naͤhmen wirs blos, daß Verderb- niſſe vorhergehen, um Verbeſſerung, Ord- nung hervorzubringen — ein groſſer Schritt! Um das Licht zu geben war ſo groſſer Schat- te noͤthig: Der Knote mußte ſo feſt zugezo- gen werden, damit nachher die Entwicklung erfolge: mußte es nicht gaͤhren, um den hefenloſen, reinen goͤttlichen Trank zu geben? — mich duͤnkt, das folgte unmittelbar aus „der Lieblingsphiloſophie„ des Jahrhunderts. Da koͤnnt ihr ja herrlich beweiſen, wie ſo viel Ecken erſt haben muͤſſen gewaltig abgerieben wer- den, ehe das runde, glatte, artige Ding er- ſcheinen konnte, was wir ſind! wie in der Kir- che

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/90>, abgerufen am 29.04.2024.