Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Formen für Würkung thue und selbst lesend uns
Nervenbau und Gehirn zerreiße, versuche man
an der Beschreibung des angenehmsten Reise-
beschreibers von Sicilien i), in der er den
Zauberpallast des wahnsinnigsten menschlicher
Dämone mittheilt. --

Es wäre hart, ein Gesetz, das sich offenbar
nur und zuerst auf Form, ganze leibhafte Form
beziehet, so fort auf jeden Anschein, Schatten
und Farbenwinkel einer andern Kunst auszubrei-
ten, die nichts von Form weiß. Mahlerei ist
eine Zaubertafel, so groß, als die Welt und die
Geschichte, in der gewiß nicht jede Figur eine
Bildsäule seyn kann oder seyn soll. Auch ich liebe
das Schöne mehr als das Häßliche, und mag
Verzerrungen so wenig auf Tafel als in Gestalt
täglich vor den Augen haben; indessen sehe ich
doch ein, daß eine zu große Zärtlichkeit, ein zu
vornehmer Abscheu uns endlich die Welt so enge
macht, als unser Zimmer und die neuesten, tief-
sten Quellen der Wahrheit, der Rege, der Kraft,
zuletzt zur elenden Pfütze austrocknet. Jm Ge-
mählde ist keine einzelne Person Alles: sind sie
nun alle gleich schön, so ist keine mehr schön. Es
wird ein mattes Einerley langschenklichter, ge-
radnäsiger, sogenannter Griechischen Figuren,

die
i) Brydone.

Formen fuͤr Wuͤrkung thue und ſelbſt leſend uns
Nervenbau und Gehirn zerreiße, verſuche man
an der Beſchreibung des angenehmſten Reiſe-
beſchreibers von Sicilien i), in der er den
Zauberpallaſt des wahnſinnigſten menſchlicher
Daͤmone mittheilt. —

Es waͤre hart, ein Geſetz, das ſich offenbar
nur und zuerſt auf Form, ganze leibhafte Form
beziehet, ſo fort auf jeden Anſchein, Schatten
und Farbenwinkel einer andern Kunſt auszubrei-
ten, die nichts von Form weiß. Mahlerei iſt
eine Zaubertafel, ſo groß, als die Welt und die
Geſchichte, in der gewiß nicht jede Figur eine
Bildſaͤule ſeyn kann oder ſeyn ſoll. Auch ich liebe
das Schoͤne mehr als das Haͤßliche, und mag
Verzerrungen ſo wenig auf Tafel als in Geſtalt
taͤglich vor den Augen haben; indeſſen ſehe ich
doch ein, daß eine zu große Zaͤrtlichkeit, ein zu
vornehmer Abſcheu uns endlich die Welt ſo enge
macht, als unſer Zimmer und die neueſten, tief-
ſten Quellen der Wahrheit, der Rege, der Kraft,
zuletzt zur elenden Pfuͤtze austrocknet. Jm Ge-
maͤhlde iſt keine einzelne Perſon Alles: ſind ſie
nun alle gleich ſchoͤn, ſo iſt keine mehr ſchoͤn. Es
wird ein mattes Einerley langſchenklichter, ge-
radnaͤſiger, ſogenannter Griechiſchen Figuren,

die
i) Brydone.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0057" n="54"/>
Formen fu&#x0364;r Wu&#x0364;rkung thue und &#x017F;elb&#x017F;t le&#x017F;end uns<lb/>
Nervenbau und Gehirn zerreiße, ver&#x017F;uche man<lb/>
an der Be&#x017F;chreibung des angenehm&#x017F;ten Rei&#x017F;e-<lb/>
be&#x017F;chreibers von Sicilien <note place="foot" n="i)"><hi rendition="#fr">Brydone.</hi></note>, in der er den<lb/>
Zauberpalla&#x017F;t des wahn&#x017F;innig&#x017F;ten men&#x017F;chlicher<lb/>
Da&#x0364;mone mittheilt. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Es wa&#x0364;re hart, ein Ge&#x017F;etz, das &#x017F;ich offenbar<lb/><hi rendition="#fr">nur</hi> und <hi rendition="#fr">zuer&#x017F;t</hi> auf Form, ganze leibhafte Form<lb/>
beziehet, &#x017F;o fort auf jeden An&#x017F;chein, Schatten<lb/>
und Farbenwinkel einer andern Kun&#x017F;t auszubrei-<lb/>
ten, die nichts von Form weiß. Mahlerei i&#x017F;t<lb/>
eine Zaubertafel, &#x017F;o groß, als die Welt und die<lb/>
Ge&#x017F;chichte, in der gewiß nicht jede Figur eine<lb/>
Bild&#x017F;a&#x0364;ule &#x017F;eyn kann oder &#x017F;eyn &#x017F;oll. Auch ich liebe<lb/>
das Scho&#x0364;ne mehr als das Ha&#x0364;ßliche, und mag<lb/>
Verzerrungen &#x017F;o wenig auf Tafel als in Ge&#x017F;talt<lb/>
ta&#x0364;glich vor den Augen haben; inde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ehe ich<lb/>
doch ein, daß eine zu große Za&#x0364;rtlichkeit, ein zu<lb/>
vornehmer Ab&#x017F;cheu uns endlich die Welt &#x017F;o enge<lb/>
macht, als un&#x017F;er Zimmer und die neue&#x017F;ten, tief-<lb/>
&#x017F;ten Quellen der Wahrheit, der Rege, der Kraft,<lb/>
zuletzt zur elenden Pfu&#x0364;tze austrocknet. Jm Ge-<lb/>
ma&#x0364;hlde i&#x017F;t keine einzelne Per&#x017F;on Alles: &#x017F;ind &#x017F;ie<lb/>
nun alle gleich &#x017F;cho&#x0364;n, &#x017F;o i&#x017F;t keine mehr &#x017F;cho&#x0364;n. Es<lb/>
wird ein mattes <hi rendition="#fr">Einerley</hi> lang&#x017F;chenklichter, ge-<lb/>
radna&#x0364;&#x017F;iger, &#x017F;ogenannter Griechi&#x017F;chen Figuren,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0057] Formen fuͤr Wuͤrkung thue und ſelbſt leſend uns Nervenbau und Gehirn zerreiße, verſuche man an der Beſchreibung des angenehmſten Reiſe- beſchreibers von Sicilien i), in der er den Zauberpallaſt des wahnſinnigſten menſchlicher Daͤmone mittheilt. — Es waͤre hart, ein Geſetz, das ſich offenbar nur und zuerſt auf Form, ganze leibhafte Form beziehet, ſo fort auf jeden Anſchein, Schatten und Farbenwinkel einer andern Kunſt auszubrei- ten, die nichts von Form weiß. Mahlerei iſt eine Zaubertafel, ſo groß, als die Welt und die Geſchichte, in der gewiß nicht jede Figur eine Bildſaͤule ſeyn kann oder ſeyn ſoll. Auch ich liebe das Schoͤne mehr als das Haͤßliche, und mag Verzerrungen ſo wenig auf Tafel als in Geſtalt taͤglich vor den Augen haben; indeſſen ſehe ich doch ein, daß eine zu große Zaͤrtlichkeit, ein zu vornehmer Abſcheu uns endlich die Welt ſo enge macht, als unſer Zimmer und die neueſten, tief- ſten Quellen der Wahrheit, der Rege, der Kraft, zuletzt zur elenden Pfuͤtze austrocknet. Jm Ge- maͤhlde iſt keine einzelne Perſon Alles: ſind ſie nun alle gleich ſchoͤn, ſo iſt keine mehr ſchoͤn. Es wird ein mattes Einerley langſchenklichter, ge- radnaͤſiger, ſogenannter Griechiſchen Figuren, die i) Brydone.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/57
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/57>, abgerufen am 29.04.2024.