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Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

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Seele und Geist. Sie ist der Ausfluß eines Spiritualismus, wel-
cher sich mit der Physiologie abzufinden sucht, indem er der-
selben die "reinen Empfindungen" opfert, dafür aber die "Vor-
stellungen" ganz für sich und den Geist reservirt wissen will.

Wenn ich mich oben dahin aussprach, daß dasselbe objec-
tive Licht je nach den Nebenumständen bald als eine Eigenschaft
(Farbe) der Aussendinge, bald aber als Licht oder Dunkel
(Schatten, Finsterniß) wahrgenommen werden könne, so wollte
ich damit nicht gesagt haben, daß trotz dieser verschiedenen
Wahrnehmung doch die Empfindung, entsprechend der Gleichheit
des Reizes, in beiden Fällen dieselbe sei. Vielmehr meine ich,
daß die Empfindung in beiden Fällen wesentlich verschieden ist,
was trotz gleichem Reize deshalb möglich ist, weil die Licht-
empfindung nicht blos eine Function des Reizes und der jeweiligen
Beschaffenheit der zunächst getroffenen nervösen Theile ist, son-
dern auch mit abhängt von der Beschaffenheit der zum Sehact
in Beziehung stehenden Hirntheile, in welchen die optischen Er-
fahrungen des ganzen Lebens gleichsam organisirt enthalten sind.
Wie der Klang, welchen ein Clavier gibt, wenn man eine Taste
desselben anschlägt, nicht blos abhängt von den Schwingungen
der Saiten, welche der Schlag direct trifft, sondern auch von der
Resonanz des ganzen Instrumentes, was bei aufgehobener Däm-
pfung am offenbarsten, aber auch sonst immer der Fall ist: so
ist auch die Empfindung, welche ein äußerer Reiz in uns erweckt,
nicht blos abhängig von der Nervenfaser, welche zunächst vom
Reize getroffen wird, sondern ist zugleich das Ergebniß der Re-
sonanz unseres ganzen Sensoriums. Ein scheinbar unbedeutender
Nebenumstand hebt gleichsam den Dämpfer von gewissen Saiten
ab und läßt sie mit anklingen, so daß der Charakter der Em-
pfindung ein wesentlich anderer wird.

Es ist richtig, daß diese große Resonanzfähigkeit unseres
Gehirns die Untersuchung der Beziehungen zwischen Reiz und
Empfindung ausserordentlich erschwert, und wir vermögen uns
nur dadurch einigermaßen zu helfen, daß wir unter den mög-
lichst einfachen Bedingungen beobachten und nur solche Em-
pfindungen vergleichen, welche unter annähernd gleichen Bedin-
gungen gewonnen wurden. Angewendet auf unsern besondern Fall
bedeutet diese Regel, daß wir zunächst nur solche Gesichtsem-

Seele und Geist. Sie ist der Ausfluß eines Spiritualismus, wel-
cher sich mit der Physiologie abzufinden sucht, indem er der-
selben die „reinen Empfindungen“ opfert, dafür aber die „Vor-
stellungen“ ganz für sich und den Geist reservirt wissen will.

Wenn ich mich oben dahin aussprach, daß dasselbe objec-
tive Licht je nach den Nebenumständen bald als eine Eigenschaft
(Farbe) der Aussendinge, bald aber als Licht oder Dunkel
(Schatten, Finsterniß) wahrgenommen werden könne, so wollte
ich damit nicht gesagt haben, daß trotz dieser verschiedenen
Wahrnehmung doch die Empfindung, entsprechend der Gleichheit
des Reizes, in beiden Fällen dieselbe sei. Vielmehr meine ich,
daß die Empfindung in beiden Fällen wesentlich verschieden ist,
was trotz gleichem Reize deshalb möglich ist, weil die Licht-
empfindung nicht blos eine Function des Reizes und der jeweiligen
Beschaffenheit der zunächst getroffenen nervösen Theile ist, son-
dern auch mit abhängt von der Beschaffenheit der zum Sehact
in Beziehung stehenden Hirntheile, in welchen die optischen Er-
fahrungen des ganzen Lebens gleichsam organisirt enthalten sind.
Wie der Klang, welchen ein Clavier gibt, wenn man eine Taste
desselben anschlägt, nicht blos abhängt von den Schwingungen
der Saiten, welche der Schlag direct trifft, sondern auch von der
Resonanz des ganzen Instrumentes, was bei aufgehobener Däm-
pfung am offenbarsten, aber auch sonst immer der Fall ist: so
ist auch die Empfindung, welche ein äußerer Reiz in uns erweckt,
nicht blos abhängig von der Nervenfaser, welche zunächst vom
Reize getroffen wird, sondern ist zugleich das Ergebniß der Re-
sonanz unseres ganzen Sensoriums. Ein scheinbar unbedeutender
Nebenumstand hebt gleichsam den Dämpfer von gewissen Saiten
ab und läßt sie mit anklingen, so daß der Charakter der Em-
pfindung ein wesentlich anderer wird.

Es ist richtig, daß diese große Resonanzfähigkeit unseres
Gehirns die Untersuchung der Beziehungen zwischen Reiz und
Empfindung ausserordentlich erschwert, und wir vermögen uns
nur dadurch einigermaßen zu helfen, daß wir unter den mög-
lichst einfachen Bedingungen beobachten und nur solche Em-
pfindungen vergleichen, welche unter annähernd gleichen Bedin-
gungen gewonnen wurden. Angewendet auf unsern besondern Fall
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[68/0076] Seele und Geist. Sie ist der Ausfluß eines Spiritualismus, wel- cher sich mit der Physiologie abzufinden sucht, indem er der- selben die „reinen Empfindungen“ opfert, dafür aber die „Vor- stellungen“ ganz für sich und den Geist reservirt wissen will. Wenn ich mich oben dahin aussprach, daß dasselbe objec- tive Licht je nach den Nebenumständen bald als eine Eigenschaft (Farbe) der Aussendinge, bald aber als Licht oder Dunkel (Schatten, Finsterniß) wahrgenommen werden könne, so wollte ich damit nicht gesagt haben, daß trotz dieser verschiedenen Wahrnehmung doch die Empfindung, entsprechend der Gleichheit des Reizes, in beiden Fällen dieselbe sei. Vielmehr meine ich, daß die Empfindung in beiden Fällen wesentlich verschieden ist, was trotz gleichem Reize deshalb möglich ist, weil die Licht- empfindung nicht blos eine Function des Reizes und der jeweiligen Beschaffenheit der zunächst getroffenen nervösen Theile ist, son- dern auch mit abhängt von der Beschaffenheit der zum Sehact in Beziehung stehenden Hirntheile, in welchen die optischen Er- fahrungen des ganzen Lebens gleichsam organisirt enthalten sind. Wie der Klang, welchen ein Clavier gibt, wenn man eine Taste desselben anschlägt, nicht blos abhängt von den Schwingungen der Saiten, welche der Schlag direct trifft, sondern auch von der Resonanz des ganzen Instrumentes, was bei aufgehobener Däm- pfung am offenbarsten, aber auch sonst immer der Fall ist: so ist auch die Empfindung, welche ein äußerer Reiz in uns erweckt, nicht blos abhängig von der Nervenfaser, welche zunächst vom Reize getroffen wird, sondern ist zugleich das Ergebniß der Re- sonanz unseres ganzen Sensoriums. Ein scheinbar unbedeutender Nebenumstand hebt gleichsam den Dämpfer von gewissen Saiten ab und läßt sie mit anklingen, so daß der Charakter der Em- pfindung ein wesentlich anderer wird. Es ist richtig, daß diese große Resonanzfähigkeit unseres Gehirns die Untersuchung der Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung ausserordentlich erschwert, und wir vermögen uns nur dadurch einigermaßen zu helfen, daß wir unter den mög- lichst einfachen Bedingungen beobachten und nur solche Em- pfindungen vergleichen, welche unter annähernd gleichen Bedin- gungen gewonnen wurden. Angewendet auf unsern besondern Fall bedeutet diese Regel, daß wir zunächst nur solche Gesichtsem-

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Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/76>, abgerufen am 27.04.2024.